Humanistische Modelle

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Zentrale Konzepte

Die humanistische Psychologie wendet sich gegen die deterministischen und mechanistischen Aspekte in den Modellen des Behaviorismus und der Psychoanalyse. Sie orientiert sich an einer holistischen Zugangsweise, wie sie vor allem in der Gestaltpsychologie, einer der Wurzeln der humanistischen Psychologie, zum Ausdruck kommt. Viele Phänomene können nicht als Einzelelemente erklärt werden, sondern müssen als ganzheitliches, dynamisches Geschehen betrachtet werden (siehe auch Videobeitrag Hans-Peter Dürr weiter unten). Der Mensch als reflexives Wesen muss seine Existenz in der Welt sinnhaft definieren (mit Sinn versehen). Dies kann immer nur in der Begegnung mit relevanten Anderen geschehen (Kriz, 2014).
Für alle Richtungen der humanistischen Psychologie können die vier folgenden programmatischen Thesen der «Association for Humanistic Psychology» als Grundlage gelten. Sie wurden von Bühler & Allen (1974) in ihrer «Einführung in die Humanistische Psychologie» beschrieben (Kochinka, 2012; siehe auch Gröschke, 1992):

  1. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die erlebende Person. Damit rückt das Erleben als das primäre Phänomen beim Studium des Menschen in den Mittelpunkt. Sowohl theoretische Erklärungen wie auch sichtbares Verhalten werden im Hinblick auf das Erleben selbst und auf seine Bedeutung für den Menschen als zweitrangig betrachtet.
  2. Die Auswahl der Fragestellungen und der Forschungsmethoden erfolgt nach Massgabe der Sinnhaftigkeit — im Gegensatz zur Betonung der Objektivität auf Kosten des Sinns.
  3. Der Akzent liegt auf spezifisch menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu wählen, der Kreativität, Wertsetzung und Selbstverwirklichung — im Gegensatz zu einer mechanistischen und reduktionistischen Auffassung des Menschen.
  4. Ein zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen, und das Interesse gilt der Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden Kräfte und Fähigkeiten. In dieser Sicht nimmt der Mensch in der Entdeckung seines Selbst, in seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu sozialen Gruppen eine zentrale Stellung ein.

(Bühler & Allen, 1974; zit. nach Kochinka, 2012)

Straub (2012) setzt etwas andere Schwerpunkte und fasst die Annahmen, Prinzipien und Orientierungen der humanistischen Psychologie folgendermassen zusammen (vgl. auch Quitman, 1985):

  1. Der Mensch ist mehr bzw. anderes als die Summe seiner einzelnen Bestandteile. Die Herkunft dieser ersten grundlegenden Annahme Ist offenkundig: In der Gestaltpsychologie sprach man vom Theorem der Übersummativität. Man widersetzte sich damit in verschiedenen Teilgebieten der Psychologie — z.B. in der Wahrnehmungs- oder Denkpsychologie — dem Standpunkt des Elementarismus, der den Behaviorismus kennzeichnete.
  2. Das Sein des Menschen, seine Existenz, vollzieht sich im Kontext sozialer Beziehungen. Der Mensch ist keine Monade, sondern ist charakterisiert durch eine Art primäre Sozialität und Kulturalität — ohne dass ihm dies den Status einer zugleich individuellen Person rauben würde.
  3. Der Mensch lebt bewusst, und diese Bewusstheit des Lebensvollzugs ist das spezifische Charakteristikum einer Existenz, in der freilich auch das emotionale Erleben von herausragender Bedeutung ist.
  4. Der Mensch kann, ja muss aus stets möglichen Alternativen auswählen, er kann und muss Entscheidungen treffen. Er kann seine Handlungs- und Lebenspraxis selbst gestalten und sich selbst bestimmen. Demzufolge muss er sein Tun und Lassen auch verantworten. Er kann dementsprechend zur Rechenschaft gezogen werden.
  5. Das Handeln des Menschen besitzt eine intentionale Struktur, es ist zweckorientiert oder zielgerichtet und an Werten ausgerichtet, die die Grundlage der Identität einer Person, den Kern ihres Selbst bilden.

Video: Weil es ums Ganze geht…

In der folgenden Videoaufnahme erklärt der Physiker Hans-Peter Dürr die Notwendigkeit einer «Sichtweise aufs Ganze»

 

Das Menschenbild der humanistischen Psychologie

Die wichtigsten Grundgedanken zum Menschenbild der humanistischen Psychologie beschreibt Kriz, zusammengefasst in vier Punkten (nach Kriz, 2014):

Das Bild zeigt die Menschenfigur auf Da Vincis Bild: Der vitruvianische Mensch.
Da Vinci: Der vitruvianische Mensch
  1. Autonomie und soziale Interdependenz: Der Mensch strebt aus seiner postnatalen biologischen Abhängigkeit nach Unabhängigkeit von äusserer Kontrolle. Er entwickelt ein aktives Selbst, das Verantwortung für das eigene Leben übernehmen kann.
  2. Selbstverwirklichung: Auch nach der Befriedigung primärer Bedürfnisse ist der Organismus lebendig und aktiv und sucht seine schöpferischen Fähigkeiten zu entfalten. Selbstaktualisierungstendenz und Wachstumsbedürfnisse sind grundlegende Antriebskräfte des Organismus.
  3. Ziel- und Sinnorientierung: Humanistische Wertvorstellungen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde sind neben den materiellen Grundlagen wichtig. Menschliches Handeln ist sinnstrukturierend und zielorientiert.
  4. Ganzheit: Der menschliche Organismus gilt als Gestalt, als organisches, bedeutungsvolles Ganzes, charakterisiert durch die Ganzheitlichkeit von Gefühl und Vernunft, Leib und Seele.

Die Bedürfnishierarchie von Maslow

Fotografie von Abraham Maslow.
(c) Wikipedia

Wachstums- und Selbstverwirklichungsprozesse können nur stattfinden, wenn grundlegende Bedürfnisse des Menschen befriedigt sind. Abraham Maslow hat für diese Zusammenhänge das Modell der Bedürfnispyramide entworfen. Die Bedürfnishierarchie zeigt, dass Bedürfnisse auf einer bestimmten Hierarchiestufe erst relevant werden, wenn alle darunter liegenden Stufen weitgehend erfüllt sind (Kriz, 2014).

Auf der untersten Stufe befinden sich physiologische Bedürfnisse wie Hunger, Durst und Sexualkontakt, auf der nächsten Stufe Sicherheitsbedürfnisse, auf der dritten Stufe Bedürfnisse nach Sozialkontakt (Zugehörigkeit und Liebe), auf der vierten Stufe die Bedürfnisse nach Bestätigung und Wertschätzung.
Erst wenn diese grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sind, kommen die Wachstums- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse nach Freiheit und Autonomie auf der fünften Stufe zum Tragen (Kriz, 2014).

Bedürfnispyramide

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