Kognitive Modelle

31 Kognitivismus

Kognitivismus

Der Kognitivismus ist eine breite Richtung der heutigen Psychologie, die die Interaktionen des Menschen mit seiner Umwelt als Ausdruck eines kontinuierlichen Informationsaustausches betrachtet (Nolting & Paulus, 2012).

Das Bild zeigt ein Mädchen, das eine Grapefruit in der Hand hält und daran schnuppert.
(c) www.br.de/

Mit der Betonung der erkennenden Funktionen werden auf der Seite der Person auch deren schöpferische Fähigkeiten hervorgehoben: Sie ist kein reaktiv Informationen verarbeitender Organismus, sondern ein seine Umwelt erschliessendes und vernunftorientiert handelndes Subjekt. Das Individuum erzeugt somit selbst Information, verleiht dem, was es wahrnimmt, seine eigene individuelle Bedeutung, die als sein Wissen wiederum sein weiteres Handeln bestimmt. Durch das Handeln verändert das Subjekt die Situation, die es wiederum wahrnimmt und der es Bedeutung verleiht, usw. So steht der Mensch in einem beständigen Wechselverhältnis zur ihn umgebenden Situation bzw. aktuellen Umwelt (Nolting & Paulus, 2012).

 

Kognitive Theorien beschäftigen sich mit der Erklärung höherer mentaler Prozesse, wie Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Entscheidungsfindung und Wissen. Das Verhalten von Menschen wird durch Handlungspläne und Handlungssteuerung bestimmt und dient dazu, Ziele zu erreichen. Der Begriff des Handelns wird gegenüber dem Begriff des Verhaltens bevorzugt (Nolting & Paulus, 2012).

Von Tauben und Affen

Das Taubenexperiment 

Herrnstein, Loveland und Cable (1976) nahmen ein paar Tauben und fragten sie auf gewisse Weise, was sie über Menschen dächten. Noch erstaunlicher ist: die Tauben antworteten.
Die Forscher präsentierten den Tauben eine Serie von Dias. Auf einigen dieser Dias waren eine oder mehrere Personen zu sehen, die verschiedene Dinge taten, die unterschiedlich gekleidet (oder auch nackt) waren, und die manchmal durch andere Objekte, wie z. B. Bäume, teilweise verdeckt waren. Die Tauben erhielten in diesem Experiment nur dann Verstärkung, wenn sie bei einem Bild pickten, auf dem Menschen zu sehen waren. Die Tauben lernten diese Aufgabe. Sie schienen etwas zu besitzen, was Herrnstein und seine Kollegen als «natürliche Konzepte» bezeichneten, mit komplexen und unbestimmten Vorstellungen davon, was ein Mensch ist. Und die Tiere waren in der Lage, diejenigen Dias, die dieses Konzept zeigten, sogar dann zu erkennen, wenn die «Menschenartigkeit» der gezeigten Personen in verschiedenen Aktivitäten, Kontexten und unterschiedlicher Kleidung versteckt war.
Natürlich sind Tauben nicht die einzigen Tiere, für die gezeigt werden kann, dass sie Konzepte ausbilden. Man erinnere sich z. B. an Tinklepaughs (1928) Forschungsarbeiten, in denen Affen entweder ein Salatblatt oder eine Banane gezeigt wurde, bevor diese Objekte versteckt wurden. Wenn der Affe sich später erinnerte, wo der Salat und die Banane versteckt war und sie aufgrund dieses Erinnerungsvermögens fand, durfte er sie essen. Und das schien ihm zu gefallen, gleichgültig ob es eine Banane oder ein Salatblatt war. Aber wenn Tinklepaugh dem Affen eine Banane zeigte, dieser aber später ein Salatblatt fand, wo eigentlich die Banane sein musste (weil Tinklepaugh sie ausgetauscht hatte), zeigte sich der Affe sehr aufgeregt. Er ignorierte den Salat nicht nur (den er wahrscheinlich gegessen hätte, wenn er erwartet hätte, ihn zu finden), sondern suchte überall nach der fehlenden Banane. Laut Tinklepaugh war dies ein Beleg, dass der Affe nicht nur gelernt hatte, wo ein Objekt versteckt war, sondern dass er ausserdem ein klares und stabiles Konzept davon hatte, was an diesem Ort versteckt sein müsste (Lefrançois, 2006, S. 189).

Das folgende Video zeigt zwei Kapuzineraffen, die sehr wohl verschiedene Früchte- und Gemüsekonzepte unterscheiden können. Das Video fokussiert zwar auf die ungleiche Belohnung, zeigt aber ebenso gut die Fähigkeit der Kapuzineraffen, natürliche Konzepte anzuwenden. (Video mit Untertiteln versehen an der HfH).

 

Gestaltpsychologie

Zeichnung mit zwei verschiedenen Köpfen, je nach Perspektive.Eine der frühen Wurzeln des Kognitivismus war die Gestaltpsychologie in Deutschland. Sie war eine wichtige Gegenbewegung gegen den vorausgegangenen Introspektionismus und auch gegen den Behaviorismus, der die amerikanische Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend dominierte. Begründer und wichtigste Vertreter der Gestaltpsychologie waren Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Max Wertheimer.
Die Gestaltpsychologie ist eine kognitive Theorie, weil sie sich mit Wahrnehmung befasst und weil sie sich gegen die Annahme wendet, menschliches Lernen funktioniere über Versuch und Irrtum. Menschen lernen durch Einsicht.
«Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile» ist wohl der bekannteste Satz, der von den Gestaltpsychologen stammt. Die wichtigsten Erkenntnisse der Gestaltpsychologie sind die Gesetze und Prinzipien, die unserer Wahrnehmung zugrunde liegen, wie Geschlossenheit, Nähe etc. (Lefrançois, 2006).

Wichtige Aussage der Gestaltpsychologie: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile: aus vielen Punkten entsteht nicht nur eine Menge von Punkten, sondern eine neue Figur: ein Kreis. Das folgende Video veranschaulicht dieses Phänomen.

 

Artikel zur Gestaltpsychologie auf Wikipedia

Gestaltgesetze

Die Gestaltpsychologen sehen eine der zentralen Fähigkeiten des Menschen darin, Gestalten wahrzunehmen, d.h. die Organisation und die Strukturen von Phänomenen zu erfassen (das Ganze). Das Ganze ist z. B. die Melodie, nicht die Abfolge von Einzelnoten und Pausen. Das Ganze bedeutet z. B. ein Trapez oder ein Dreieck oder ein Quadrat zu erkennen, nicht mehr oder weniger exakt gezeichnete einzelne Linien (Lefrançois, 2006).

Grafik, auf der die Anordnung der Flecken die Gestalt eines Hundes ergibt.Die Gestaltpsychologie kann man am besten darstellen, indem man ihre Wahrnehmungsgesetze beschreibt. Diese Wahrnehmungsgesetze wurden von den Begründern der Gestaltpsychologie (Wertheimer, Koffka und Köhler) entwickelt:
Ein übergreifendes Prinzip regelt Wahrnehmung und Denken: die Prägnanz oder die gute Form. Das Gehirn des Menschen hat die Tendenz, dem Wahrgenommenen die bestmögliche Form zu geben.
Die nachstehenden Gesetze regeln die Wahrnehmung und können damit auch am besten beschrieben und veranschaulicht werden; nach Ansicht der Gestaltpsychologen sind sie jedoch ebenso für das Denken wie für die Wahrnehmung anwendbar (Lefrançois, 2006).

Prinzip der Ähnlichkeit oder Gleichheit:
Ähnliche Objekte oder Objekte gleicher Form werden als zusammengehörig wahrgenommen (Abb. 1).

Prinzip der Nähe:
Dieses Prinzip beschreibt eine Tendenz, Dinge als zusammengehörend wahrzunehmen, die in in enger räumlicher Nähe zueinander liegen (Abb. 2).

Prinzip der Geschlossenheit:
Dies bezeichnet eine Tendenz, unvollständige Objekte so zu ergänzen, dass sie als vollständig erscheinen. Wir erkennen ein Quadrat oder einen Kreis auch dann, wenn die Umrisslinien fragmentiert sind (Abb. 3).

Prinzip der Kontinuität:
Wahrnehmungsphänomene werden als kontinuierlich wahrgenommen (Abb. 4). Man sieht in der Abbildung eine gebogene Linie und eine kantige Form, nicht eine Mischung aus beiden.

Die Grafik zeigt eine Anordnung von verschiedenen Symbolen.

Die Grafik zeigt mehrere Ansammlungen von Punkten.
Die Grafik zeigt Kreise und Quadrate, deren Umrisslinien nicht geschlossen sind.
Die Grafik zeigt eine wellenförmige und eine eckige Linie, die sich überschneiden.

Weitere Gestaltprinzipien:
Gemeinsame Bewegung, gemeinsames Schicksal, zeitliche Synchronität etc.

Eine anschauliche Darstellung der Gestaltprinzipien findet sich unter der URL http://www.stroopr.de/wahrnehmung/gestaltprinzipien/

Gestaltpsychologie und Lernen/Gedächtnis

Die Gestaltpsychologen nehmen an, dass Lernen zur Bildung von Gedächtnisspuren führt. Das gelernte Material hat gemäss den beschriebenen Gestaltgesetzen die Tendenz, die bestmögliche Struktur anzunehmen und organisiert sich gemäss diesen Prinzipien. Man unterscheidet drei Organisationstendenzen des Gedächtnisses (nach Lefrançois, 2006):

Angleichen bezeichnet eine Tendenz zur Symmetrie oder zur Abschwächung der Besonderheiten von Wahrnehmungsmustern.

Die Grafik zeigt die Veränderung einer Figur mit Tendenz zur Symmetrie.
(c) Lefrançois, 2006
Beispiel: Beim Vergegenwärtigen einer Zugfahrt erinnert sich eine Person an einen allgemeinen Eindruck der Vorwärtsbewegung und an vorbeiziehende Landschaften, aber nicht an das Gefühl des Schwankens von einer Seite auf die andere.

Verschärfen bedeutet, die Besonderheiten in einem Muster hervorzuheben. Besonders hervorstechende Eigenschaften werden übetrieben dargestellt (wie in der Abbildung die Augenbrauen), weniger prominente verschwinden.

 

Die Grafik zeigt die Tendenz des Verschärfens in einer Bildfolge.
(c) Lefrançois, 2006

Normalisierung bezeichnet eine Tendenz, das wahrzunehmen, was im Gedächtnis gespeichert ist. Das wahrgenommene Objekt wird sukzessive dem vetrauten («normalen») Objekt angenähert.

 

Die Grafik zeigt die Tendenz, etwas Erwartetes, Bekanntes wahrzunehmen.
(c) Lefrançois, 2006

Gestaltpsychologie in Erziehung und Heilpädagogik

Weil die Gestaltpsychologie das Vorgehen von Versuch und Irrtum als Lernmethode ablehnt, sollten den Lernenden nicht Aufgaben gestellt werden, zu deren Lösung eine Vielzahl möglicher Lösungswege ausprobiert werden können, sondern das Lernen sollte so gestaltet sein, dass Lernende Einsicht gewinnen.

Probleme sollten auch nicht so beschaffen sein, dass sie durch eine Reihe von einstudierten Schritten gelöst werden können. Wertheimer (1959) führt eine Lernschwierigkeit namens Antworttendenz auf dieses Vorgehen zurück. Darunter versteht er die Neigung, in einer vorher festgelegten Weise zu reagieren oder wahrzunehmen.

Die Perspektive der Gestaltpsychologen unterstützt Ansätze des Konstruktivismus, die stark auf den Lernenden ausgerichtet sind. Der Lernende soll die wichtigen Informationen selber konstruieren, statt sie vorgesetzt bekommen.
Die Methoden des Konstruktivismus fördern das Entdeckungslernen, die Kooperation in der Klasse und die aktive Beteiligung am Unterricht, während das direkte Unterrichten (Lefrançois 2006; S. 79) stärker lehrerzentriert ist.

Wichtige Aussage der Gestaltpsychologie: Menschen lösen Probleme durch Einsicht!

Jerome Bruner

Foto von Jerome Bruner.
Jerome Bruner

Jerome Bruner (geb. 1915 in New York) ist Psychologe mit pädagogischen Interessen. Er leistete wichtige Beiträge zur kognitiven Lerntheorie und war einer der Initiatoren der sogenannten kognitiven Wende in der Psychologie.

Bruner macht für die Evolution des Geistes drei Schübe wichtiger menschlicher Erfindungen verantwortlich: Der erste Schub waren Erfindungen, die die motorischen Kapazitäten des Menschen verbesserten, wie Hebel, Rollen, das Rad, einfache Maschinen und Geräte, z. B. für die Herstellung von Waffen.
Ein zweiter Schub von Erfindungen verstärkte eher die sensorischen Kapazitäten der Menschen, z. B. das Teleskop, Radio, Fernsehen und andere Instrumente, die die Fähigkeiten des Sehens, Hörens und Fühlens verstärkten und verbesserten.
Der dritte Schub förderte vor allem die intellektuellen Fähigkeiten. Bruner versteht darunter die menschlichen Symbolsysteme und Theorien, wozu Computersprachen und -theorien gehören. Diese Theorien erweitern die menschlichen Kompetenzen stark (Lefrançois, 2006).

Grafische Darstellung des Spiral-Curriculums von Jerome Bruner.Die Repräsentationssysteme entwickeln sich nach Bruner in der Entwicklung der Kinder analog zur Geschichte der menschlichen Erfindungen, nämlich vom enaktiven Repäsentationsmodus (motorisch, handelnd) über den ikonischen Repräsentationsmodus (sensorisch, bildhaft) schliesslich zum symbolischen Modus (sprachlich, intellektuell). Diese Repräsentationsmodi lösen einander nicht ab, sondern ergänzen sich additiv.

In der Schulpraxis bekannt ist Bruners Vorschlag, Lernstoff in Form eines Spiralcurriculums anzuordnen, das die Entwicklung und Addition der Repräsentationsmodi beschreibt. Wirkungsvoll war sein Eintreten für entdeckendes Lernen als Weg zum Wissenserwerb. Bruners Lerntheorie weist Anknüpfungspunkte zu konstruktivistischen Lerntheorien auf.

Bruner plädiert dafür, der «Bedeutung» als einem zentralen psychologischen Konzept mehr Geltung zu verschaffen. Die Konstruktion von Bedeutung — damit ist die Frage gemeint, wie Menschen aus dem Durcheinander physikalischer Sinneseindrücke einen Sinn entwickeln — soll nach Bruner verstärkt erforscht werden. Die Bedeutung des Selbst im Kontext der Kultur greift Bruner in jüngeren Schriften ebenso auf. Eine Erklärung des menschlichen Zustandes könne keinen Sinn ergeben, «wenn sie nicht im Licht der Symbolwelt interpretiert wird, die die Grundlage menschlicher Kultur bildet», schreibt Bruner 1990.

Bruner: Kategorien

Bruners Theorie der Repräsentationen beruht auf der grundlegenden Idee der Kategorisierung. Jede menschliche kognitive Aktivität wendet Kategorien an (Lefrançois, 2006).

Der Cartoon zeigt verschiedene Kategorien von Tieren und eine Person, die ratlos vor dem Problem steht, eine Giraffe mit Löwenkopf einzuordnen.
(c) www.wiki-hilfe.de/wiki/Kategorisierung

Was ist eine Kategorie?
Wenn ein Mann einen Kopf mit langen blonden Haaren und einem hübschen Gesicht sieht, das ihn aus einem Meer von Schaum in einer rosafarbenen Badewanne anlächelt, sieht er da nur einen Kopf mit langem blonden Haar und ein lächelndes Gesicht über einem Meer von Schaum in einer rosafarbenen Wanne?
Im wörtlichen Sinne: Ja, das ist alles, was er sieht. Aber in einem anderen Sinne sieht er noch viel mehr. Er sieht, dass dies eine Frau ist, die wahrscheinlich zwei Arme und zwei Beine hat, Zehennägel und andere Merkmale. Aber er kann diese Dinge nicht sehen, und so geht er, laut Bruner, «über die gegebene Information hinaus» (1957a). Zunächst stellt er fest, dass es sich um eine Frau handelt, zweitens zieht er Schlussfolgerungen über diese Frau basierend auf dem, was über alle Frauen bekannt ist. Laut Bruner sind Schlussfolgerungen durch die Verwendung von Kategorien möglich — in diesem Fall der Kategorie Frau (Lefrançois, 2006, S. 195).

Die Kategorie Frau ist ein Konzept in dem Sinne, dass es eine Repräsentation von aufeinander bezogenen Dingen ist; es ist aber auch ein Perzept in dem Sinne, dass es sich um ein physikalisches Objekt handelt, welches über die Sinne aufgenommen wird. Perzepte und Konzepte sind in Bruners Theorie annähernd äquivalent (Lefrançois, 2006).

Kategorien kann man als Regeln betrachten, nach denen Dinge oder Sachverhalte als gleichartig klassifiziert werden. Die Kategorie Buch ist eine Sammlung von Regeln, die es einer Person ermöglichen, einen Gegenstand als Buch zu erkennen.
Kategorien werden über sog. kritische Attribute von Objekten oder Sachverhalten definiert, d.h. solchen, die für die Zugehörigkeit eines Objektes zu einer bestimmten Kategorie entscheidend sind (Lefrançois, 2006).

Bruner: Konzepte und Konzepterwerb

Die Grafik zeigt eine farbige Anordnung verschiedener geometrischer Figuren.
(c) www.thomas-wuest.de/

Menschen bilden nach Bruner Konzepte, um die Umwelt zu vereinfachen und herauszufinden, wie sie in dieser handeln können. Mit Hilfe der Konzepte werden die Dinge und Phänomene auch kategorisiert, wodurch diese vereinfacht und damit verständlich und operationalisierbar werden. Bruner erforschte unterschiedlichste Arten von Konzepten sowie die Strategien des Konzepterwerbs. Die Untersuchungsergebnisse sind teilweise schwer für das Alltagsleben umsetzbar. aber von grosser systematischer Relevanz.

Bruner unterscheidet die Begriffe Konzeptbildung und Konzepterwerb. Er geht davon aus, dass die Konzeptbildung mit Lernen verglichen werden kann; Konzeptbildung ist etwa bis zum 15. Lebensjahr vorherrschend, später ist der Konzepterwerb wichtiger, d.h. die Phase, in der ein gelerntes Konzept angewendet werden kann.

Beispiel: Wenn man lernt, dass es essbare und ungeniessbare Pilze gibt, bildet man ein Konzept.
Wenn man schliesslich gelernt hat, welche Unterschiede zwischen essbaren und ungeniessbaren Pilzen bestehen, hat man das Konzept erworben.

Bruner: Bezug zur Pädagogik

Bruners Theorien sind für Erklärung von spezifischen Verhaltensweisen nicht überaus nützlich. Verhaltensweisen sind durch behavioristische Ansätze leichter erklärbar. Für die Erklärbarkeit höherer geistiger Prozesse wie die Entscheidungsfindung und die Anwendung kognitiver Strategien sind sie aber sehr aufschlussreich (Lefrançois, 2006).

Bruner betont die Bedeutung des Entdeckungslernens für den Schulunterricht. Er postuliert, dass die Herausbildung allgemeiner Kodiersysteme im Jugendlichen die Entdeckung von Beziehungen voraussetzt. Kinder sollen ermutigt werden, Konzepte und Beziehungen selber herauszufinden und anzuwenden, um damit die Konzeptbildung und den Konzepterwerb zu fördern. In diesem Sinne werden im Spiral-Curriculum die Lernthemen in aufeinanderfolgenden Alters- oder Klassenstufen wiederholt behandelt, mit fortschreitendem Schwierigkeitsgrad. Das Interesse am Entdeckungslernen entspricht einem konstruktivistischen Ansatz für die Gestaltung des Unterrichts.

Die Verwendung von Entdeckungsmethoden im Schulunterricht hat aber auch viele Kritiker auf den Plan gerufen, die für stärker didaktisch ausgerichtete Methoden plädieren. Forschungsarbeiten, die die beiden Methoden vergleichen, kommen zu keinen eindeutigen Schlussfolgerungen bezüglich des Nutzens für die Schüler (Lefrançois, 2006, S. 204).

Jean Piaget

Foto von Jean Piaget.
Jean Piaget

Jean Piaget (1896 bis 1980) war ein Pionier auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklungspsychologie und beschrieb wichtige Erkenntnisse zur kognitiven Entwicklung des Kindes. «Menschliche Entwicklung ist ein Prozess der Adaptation. Und die höchste Form der Adaptation ist Kognition» (von Glasersfeld, 1977).

Die Prozesse, die Adaptation ermöglichen, sind Assimilation und Akkommodation. Assimilation heisst, auf Situationen mit angeborener oder erlernter Aktivität zu reagieren; Informationen aus der Umwelt werden modifiziert, um sie vorhandenem Wissen anzupassen. Dabei verwendet das Kind bereits vorhandene Schemata (angeborene oder erlernte Strukturen). Mit der Akkommodation werden vorhandene Schemata modifiziert, um den Entwicklungsfortschritt zu ermöglichen.
Die ausgewogene Anwendung von Assimilation und Akkommodation wird als Equilibration bezeichnet und ermöglicht, dass das Verhalten und Wissen des Kindes unabhängiger von der spontanen externen Realität wird und sich stärker auf abstraktes Denken stützt (Zimbardo & Gerrig, 2008). Vgl. auch das vertiefende Beispiel.

Kognitive Entwicklung: Die Entwicklung von geistigen Prozessen und Fähigkeiten wie der Vorstellungskraft, der Wahrnehmung, des Schlussfolgerns und des Problemlösens, sowie der zugehörigen Wissensgrundlagen.

Schemata: Piagets Begriff für die kognitiven Strukturen, die sich entwickeln, wenn Säuglinge und kleine Kinder lernen, die Welt zu interpretieren und sich an ihre Umgebung anzupassen. Kognitive Schemata im Sinne Piagets sind geistige Strukturen zur Ordnung von Objekten und ihren Relationen.

Assimilation: Nach Piaget der Prozess, in dem neue kognitive Elemente zu schon vorhandenen Elementen hinzugefügt werden oder so modifiziert werden, dass sie besser zu bestehenden Elementen passen; dieser Prozess verläuft Hand in Hand mit dem Prozess der Akkommodation.

Akkommodation: Nach Piaget der Prozess, bei dem bestehende kognitive Strukturen restrukturiert oder modifiziert werden, damit neue Information besser eingefügt werden kann; dieser Prozess arbeitet mit dem Prozess der Assimilation zusammen.
(nach Zimbardo & Gerrig, 2008, S.452)

Beispiel zum Verhältnis von Assimilation und Akkommodation (aus Zimbardo & Gerrig, 2008)

Betrachten wir die Übergänge, die ein Kind machen muss, um vom Saugen an der Mutterbrust über das Saugen am Nippel einer Flasche und das Saugen an einem Trinkhalm dahin zu kommen, aus einer Tasse zu trinken. Die anfängliche Saugreaktion ist ein bei der Geburt vorhandenes Reflexverhalten, das jedoch etwas modifiziert werden muss, um den Mund des Kindes an die Form und Grösse der mütterlichen Brustwarze anzupassen. Bei der Anpassung an die Flasche benutzt ein Säugling immer noch viele Teile der Sequenz in unveränderter Form (Assimilation), muss aber den Gumminippel etwas anders fassen und anders daran saugen, und auch die Flasche muss in einem geeigneten Winkel gehalten werden (Akkommodation). Die Schritte von der Flasche zum Trinkhalm und zur Tasse erfordern weitere Akkommodation, basieren jedoch immer noch auf früheren Fähigkeiten. Für Piaget war kognitive Entwicklung das Ergebnis eines solchen Ineinandergreifens von Assimilation und Akkommodation (Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 452).

Kognitive Entwicklung

Piaget glaubte, dass die kognitive Entwicklung des Kindes über eine Reihe von Stufen oder Stadien fortschreitet, von denen sich jede durch die Entwicklung neuer Fähigkeiten und ein fortgeschritteneres Adaptionsniveau auszeichnet (Lefrançois, 2006). Man nimmt an, dass alle Kinder die Stadien in dieser Reihenfolge durchlaufen; die Altersgrenzen können aber variieren.

Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget:

Stadium / Alter
Typische Merkmale und wichtigste Errungenschaften
Sensumotorisch (0-2 Jahre)
Das Kind verfügt zu Beginn seines Lebens über eine kleine Zahl an sensumotorischen Sequenzen. Das Kind erwirbt Objektpermanenz und die Anfänge symbolischen Denkens.
Präoperatorisch (2-7 Jahre)
Das Denken des Kindes ist von Egozentrismus und Zentrierung geprägt. Das Kind besitzt verbesserte Fähigkeiten zum Einsatz symbolischen Denkens.
Präkonzeptuell (2-4 Jahre)
Intuitiv (4-7 Jahre)
Konkret-operatorisch (7-11/12 Jahre)
Das Kind versteht das Invarianzprinzip. Das Kind kann in Bezug auf konkrete, physikalische Objekte schlussfolgernd denken.
Formal-operatorisch (ab 11/12 Jahren)
Das Kind entwickelt die Fähigkeit zu abstrakten Schlussfolgerungen und hypothetischem Denken.

Das sensumotorische Stadium
Das sensumotorische Stadium dauert von der Geburt bis zum Alter von etwa zwei Jahren. Das Stadium wird so bezeichnet, weil die Kinder in dieser Zeit sensumotorisch auf die Welt reagieren, d. h. sie verstehen die Welt durch ihre Empfindungen und über ihre Handlungen. Anfänglich besteht das Verhalten des Säuglings hauptsächlich aus angeborenen Schemata wie Saugen, Betrachten, Greifen. Diese Schemata werden zu Sequenzen zusammengesetzt und verfeinert.
Die wichtigste kognitive Funktion, die während dieser Zeit erworben wird, ist die Objektpermanenz (auch Objektkonstanz). Das Kind beginnt zu verstehen, dass Objekte auch unabhängig von seinem Bewusstsein oder seinen Handlungen existieren.

Beispiel (siehe Abbildung): Ein sechs Monate altes Kind beschäftigt sich mit einem Spielzeug, verliert aber schnell das Interesse, wenn ein Sichtschirm das Spielzeug aus dem Blickfeld des Kindes entfernt (aus Zimbardo & Gerrig, 2008).
Ein Kleinkind beschäftigt sich mit einem Spielzeug, verliert jedoch das Interesse, sobald das Spielzeug nicht mehr sichtbar ist.
(c) Zimbardo & Gerrig, 2008

Das präoperatorische Stadium
Das präoperatorische Stadium erstreckt sich ungefähr vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr. In dieser Zeit verbessert sich vor allem die Fähigkeit zur mentalen Repräsentation von nicht physikalisch vorhandenen Objekten und das Weltverständnis. Auf der Stufe des präkonzeptuellen Denkens (2.-4. Lebensjahr) versteht das Kind noch nicht alle Eigenschaften von Klassen und kann noch nicht zwischen einzelnen Individuen derselben Klasse differenzieren (So ist z. B. der Samichlaus immer der Samichlaus, obschon er am gleichen Tag schon mehrmals gesehen wurde). Im 4. bis zum 7. Lebensjahr folgt das Stadium des intuitiven Denkens. Die Entwicklung der Wahrnehmung und der mentalen Repräsentation ist das wichtigste Merkmal dieser Zeitspanne.

Piaget glaubt, dass das Denken kleiner Kinder durch Egozentrismus geprägt ist, der Unfähigkeit, die Perspektive einer andern Person einzunehmen. Kinder in diesem Stadium unterliegen auch der Zentrierung: sie neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die perzeptiv auffälligen Merkmale eines Objekts zu fixieren (Zimbardo & Gerrig, 2008).

Bidl eines kleinen Mädchens mit zwei halb gefüllten Wassergläsern.
(c) Zimbardo & Gerrig, 2008

 

Das konkret-operatorische Stadium
Das konkret-operatorische Stadium dauert etwa vom siebten bis zum elften Lebensjahr. Es findet ein Übergang vom präoperativen Denken zu einem stärker regelbasierten Denken statt. Konkrete Operationen ermöglichen mentale Handlungen, also solche, die im Geist ausgeführt werden, nicht physikalisch, und die zur Entwicklung des logischen Denkens führen.
Das Invarianzprinzip (oder das Prinzip der Erhaltung) bedeutet, dass die Kinder nun wissen, dass sich die physikalischen Eigenschaften von Objekten nicht ändern, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen wird, obwohl sich das Aussehen der Objekte ändert.

Beispiel: Piagets Demonstration des Invarianzprinzips:
Wenn dieselbe Menge Limonade in zwei identische Gläser gegossen wird, geben fünf und sieben Jahre alte Kinder an, beide Gläser enthielten dieselbe Menge. Wenn aber die Limonade aus einem breiten Glas in ein hohes, dünnes Glas gegossen wird, unterscheiden sich ihre Meinungen. Die Fünfjährigen wissen, dass die Limonade im hohen Glas dieselbe Limonade wie zuvor ist, sagen aber, dass es jetzt mehr Limonade sei. Die Siebenjährigen stellen zutreffenderweise fest, dass es keinen Mengenunterschied gibt (Zimbardo & Gerrig, 2008).
Der Begriff der Invarianz in Piagets Theorie demonstriert logische Gesetze, die nun das Denken dominieren: Reversibilität, Identität und Kompensation.
Reversibilität: Ein Gedanke (eine mentale Handlung) ist dann reversibel, wenn das Kind erkennt, dass die Handlung umgekehrt werden kann und dass daraus bestimmte logische Konsequenzen folgen (Lefrançois, 2006). (gemäss Beispiel: «wenn das Wasser aus dem hohen Glas zurück in das ursprüngliche Glas geleert wird, sieht man, dass die Menge sich nicht verändert haben kann»)
Identität: Das Kind könnte auch folgern, dass die Menge der Limonade in den Gläsern nicht verändert wurde (weder etwas hinzugefügt noch etwas weggenommen wurde), so dass immer noch dieselbe Menge Flüssigkeit vorhanden sein muss. Das heisst, es gibt Operationen, die das Ergebnis unverändert lassen.
Kompensation ist die dritte Möglichkeit des Schlussfolgerns: «Das Glas ist höher, aber dünner, das gleicht sich aus».
(nach Lefrançois, 2006)

 

Das formal-operatorische Stadium
Das formal-operatorische Stadium beginnt ungefähr mit dem elften Lebensjahr. In diesem Stadium der kognitiven Entwicklung wird das abstrakte Denken bestimmend. Die Adoleszenten sind nun in der Lage zu erkennen, dass ihre Realität nur eine von mehreren vorstellbaren Realitäten ist, und sie fangen an, sich über die Fragen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Daseins Gedanken zu machen (Zimbardo & Gerrig, 2008).

Die formalen Operationen lösen die konkreten Operationen ab. In der vorangegangenen Phase der konkreten Operationen wurden die logischen Überlegungen nur auf reale Objekte angewendet, also auf die konkrete Realität. Mit den formalen Operationen sind die Jugendlichen nun aber in der Lage, sich mit dem Hypothetischen auseinanderzusetzen und Probleme auf einer hypothetischen Ebene zu lösen. Sie können logische Schlussfolgerungen ziehen, mental Variablen variieren und hypothetische Fragen stellen. Problemstellungen können systematisch abgearbeitet werden.

Ein weiteres Kennzeichen dieses Stadiums ist das hypothetisch-deduktive Denken, wie es in der Logik beschrieben ist: Wenn zwei Annahmen wahr sind, muss auch die daraus abgeleitete Folgerung wahr sein (Inklusionsbeziehung):

Beispiel:
Erste Annahme (Prämisse): «Alle Menschen sind sterblich».
Zweite Annahme (Prämisse): «Sokrates ist ein Mensch».
Daraus folgt die Schlussfolgerung (Konklusion): «Sokrates ist sterblich».

Video zum Invarianzprinzip

Das folgende Video zeigt ein Kind in einem Experiment zum Invarianzprinzip (Prinzip der Erhaltung). (Video mit Untertiteln versehen an der HfH)

Piaget: Bezug zur Pädagogik

Es sind vier grosse Kräfte, die die kindliche Entwicklung und das Lernen formen (Lefrançois, 2006, S. 221):

Vier Kräfte, die die Entwicklung des Kindes steuern (nach Lefrançois, 2006):

Kraft
Erklärung
Implikationen für die Pädagogik
Equilibration
Eine Tendenz zur Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Assimilation und Akkommodation.
Kinder müssen Aufgaben mit optimalem Schwierigkeitsgrad erhalten — nicht zu schwierig, so dass sie eine zu grosse Herausforderung darstellen, aber auch nicht so einfach, dass keine Akkommodation nötig ist.
Reifung
Genetische Kräfte, die — obwohl sie das Verhalten nicht determinieren — an dessen Entfaltung beteiligt sind.
Zur Optimierung des Unterrichts müssen Lehrer etwas darüber wissen, wie Kinder denken und lernen — über ihren Reifegrad und ihr Verständnis.
Aktive Erfahrung
Die Interaktion mit realen Objekten und Ereignissen ermöglicht es dem Individuum, Dinge zu entdecken und mentale Repräsentationen der Welt zu konstruieren.
Hiermit wird ein konstruktivistisches Curriculum favorisiert, bei dem der Lernende aktiv am Prozess der Entdeckung und des Lernens beteiligt ist.
Soziale Interaktion
Die Interaktion mit Menschen führt zur Entwicklung von Ideen über Dinge, Menschen und das Selbst.
Schulen sollten Gelegenheit zur Interaktion zwischen Lernenden und zwischen Lernenden und Lehren geben, sowohl im Unterrichtskontext als auch ausserhalb.

In Piagets Theorie ist ein Grossteil der kognitiven Entwicklung das Produkt von Reifungsprozessen im Kind: Die Umwelt hat nur einen sehr geringen Einfluss darauf, wie sich die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes im Laufe der Zeit verändern. Heutige Forscher haben jedoch damit begonnen, sich auf die Rolle sozialer Interaktionen bei der kognitiven Entwicklung zu konzentrieren. Ein Grossteil dieser Forschung geht auf die Theorien des russischen Psychologen Lew Wygotski zurück (siehe nächstes Kapitel). Wygotski behauptete, Kinder würden sich durch einen Prozess der Internalisierung entwickeln: Sie absorbieren Wissen aus ihrem sozialen Kontext, der einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf der kognitiven Entwicklung hat. Die soziale Theorie, deren Wegbereiter Wygotski war, wurde durch kulturvergleichende Studien zur Entwicklung gestützt (Zimbardo & Gerrig, 2008).

Universalität von Piagets Theorien?

Als Piagets Theorien anfangs die Aufmerksamkeit von Entwicklungsforschern erregten, waren viele daran interessiert, seine Aufgaben zu benutzen, um die kognitiven Errungenschaften von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen zu untersuchen. Diese Untersuchungen stellten die Universalität von Piagets Behauptungen in Frage, weil beispielsweise Menschen in vielen Kulturen keine Belege für formal-operatorisches Denken zeigten. Piaget selbst begann im Alter darüber zu spekulieren, ob die spezifischen Errungenschaften, die er als formale Operationen beschrieben hatte, nicht vielleicht eher auf einer bestimmten Art von (zum Teil schulischer) Ausbildung in den Naturwissenschaften beruhen, die Kinder erhalten, als auf der Entfaltung von biologisch vorgegebenen Entwicklungsstufen (Lourenço & Machado, 1996) (Zimbardo & Gerrig, 2008).

Lew Wygotski: soziokultureller Ansatz

Lew S. Wygotski (1896–1934) hat eine dezidiert soziokulturelle Perspektive in die Entwicklungspsychologie eingebracht. Seine Arbeiten gelten heute als wichtigster psychologischer Beitrag zum Sozialkonstruktivismus.
 Die zentrale Annahme Wygotskis ist, dass psychische Prozesse einen sozialen Ursprung besitzen und jede psychische Funktion zunächst eine soziale und äussere war, bevor sie verinnerlicht wird. Wygotski spricht von Internalisierung als einem fundamentalen Gesetz psychischer Entwicklung. Kinder absorbieren Wissen aus ihrem sozialen Kontext, der einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf der kognitiven Entwicklung hat. Weil er schon den Säugling «mit seiner gesamten Lebensweise» auf die Kommunikation mit Erwachsenen ausgerichtet sieht, steht es für Wygotski ausser Frage, dass bereits die ersten Kontakte des Menschen mit der Realität soziokulturell vermittelt sind.
 Für dieses Verständnis von psychischer Entwicklung ist die Vermittlung über psychische Werkzeuge wie Sprache und andere Formen sozialer Symbolik von ausserordentlicher Bedeutung, und Wygotski sieht den Schlüssel für das Verständnis kognitiver Entwicklung in der Untersuchung der Begriffsentwicklung und Wortbedeutungen. Hierin und in der Auffassung von psychischer Entwicklung als einem diskontinuierlichen Prozess mit Übergängen zwischen altersspezifischen Denkformen bestehen deutliche Parallelen zwischen Wygotski und Piaget (nach Brandes, 2015).

Im Unterschied zu Piaget betont Wygotski, dass das kindliche Denken «nicht vom Individuellen zum Sozialisierten, sondern vom Sozialen zum Individuellen» (Wygotski 1972, 44) verläuft. In diesem Zusammenhang widerspricht er bezogen auf das Phänomen des «egozentrischen Sprechens» der Interpretation Piagets, indem er es als «von Anfang an sozial» und im Sinne seiner Internalisierungshypothese als Übergangsphänomen zum inneren Sprechen versteht. Bezogen auf den Beziehungsaspekt der Entwicklung ist Wygotskis Konzept der Zone des proximalen Wachstums von besonderer Bedeutung: Dieser Begriff beschreibt gewissermassen das Potenzial des Kindes für die Entwicklung und bezieht sich auf den Zeitraum, in dem ein Kind die Dinge und Phänomene in einem interaktiven Zusammenhang optimal zu erfassen vermag (nach Brandes, 2015).

Quelle

Brandes, Holger (2015). Entwicklung, soziokultureller Ansatz nach Wygotski. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. Abgerufen am 05.03.2015, von https://portal.hogrefe.com/dorsch/entwicklung-soziokultureller-ansatz-nach-wygotski/

Internalisierung (auch Interiorisation): Nach Wygotski der Prozess, durch den Kinder Wissen aus dem sozialen Kontext absorbieren (Zimbardo & Gerrig, 2008).
Soziale und kulturelle Einflüsse auf die kognitive Entwicklung
Wygotskis Konzept der Internalisierung ist hilfreich, um den Einfluss der Kultur auf die kognitive Entwicklung zu erklären. Das Denken von Kindern entwickelt sich, um kulturell wertgeschätzte Funktionen zu erfüllen (Serpell & Boykin, 1994; Serpell, 2000). Piaget entwickelte beispielsweise Aufgaben, die seine eigenen Vorannahmen über angemessene und wertvolle kognitive Tätigkeiten widerspiegelten. Andere Kulturen ziehen es vor, wenn ihre Kinder sich in anderer Weise auszeichnen. Wären Piagets Kinder in Hinblick auf ihr Verständnis der kognitiven Feinheiten des Webens bewertet worden, hätte man im Vergleich zu den Kindern der Mayas aus Guatemala vermutlich angenommen, Piagets Kinder seien geistig zurückgeblieben (Rogoff, 1990). Kulturvergleichende Studien haben recht oft gezeigt, dass die Art der Schulung eine grosse Rolle spielt, wenn es um die Leistung von Kindern in Piagets Aufgaben geht (Rogoff & Chavajay, 1995). Psychologen müssen diese Art von Ergebnissen nutzen, um die Rollen von Erbe und Umwelt bei der kognitiven Entwicklung voneinander zu trennenn(Zimbardo & Gerrig, 2008).

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Verhalten: Grundlagen und Modelle Copyright © Margaretha Florin. Alle Rechte vorbehalten.