Lerntheoretische Modelle

19 Lerntheoretische Konzepte

Lerntheoretische und verhaltenstherapeutische Konzepte

Im folgenden werden grundlegende Konzepte bzw. Prozesse des Lernens vorgestellt, die für das Verständnis herausfordernden Verhaltens und den Umgang damit auf einer praktischen Ebene nützlich sind, unabhängig davon, welcher der oben vorgestellten einzelnen Theorien sie zuzuordnen sind:
  • Desensibilisierung und Gegenkonditionierung
  • Habituation
  • Primäre und sekundäre Verstärker
  • Löschung
  • Kontingenz und Kontiguität
  • Generalisierung und Diskrimination
  • Shaping und Chaining

Die Zuordnungen zur den Theorien sind oft nicht eindeutig und bringen wenig praktischen Nutzen für die Arbeit der Heilpädagogen. Die vorgestellten Konzepte basieren zum Teil auf dem klassischen Konditionieren, zum Teil auf operanten Methoden. Ausserdem wird der Kontext der Verhaltenstherapie einbezogen.

Fallvignette (Bodenmann)

Diese kurze Fallvignette stammt aus dem Referat von Prof. Dr. Guy Bodenmann anlässlich der Fortbildungstage HfH, im Januar 2014. Die nachfolgenden Videobeispiele zu lerntheoretischen Konzepten werden anhand dieser Fallvignette erläutert.

Joel (10 jährig) weigert sich in die Schule zu gehen. Morgens fragt er bereits beim Aufstehen, ob er in die Schule gehen müsse oder ob Wochenende sei. Wenn die Mutter sagt, dass heute sehr wohl Schule sei, beginnt Joel zu weinen. Er wolle nicht zur Schule gehen. Er trödelt mit dem Anziehen, verweigert das Frühstück. Er klagt über starke Bauchschmerzen. Er fühle sich unwohl und müsse zu Hause bleiben. Die Mutter, welche berufstätig ist, kommt jeweils stark unter Druck, da sie nicht zu spät zur Arbeit kommen kann. Sie versucht Joel zuerst liebevoll, dann mit mehr Nachdruck zu überzeugen, dass die Schule okay sei und man doch gern zur Schule gehe. Sie verstehe nicht, was denn los sei. Sie nimmt Joel in die Arme, macht ihm eine warme Bettflasche und redet ihm gut zu. Kurz bevor Joel dann das Haus verlassen sollte, spitzt sich die Lage weiter zu. Joel schreit, klammert sich an die Mutter, beschwört sie, wird wütend und ausfällig. Die Mutter schimpft schliesslich entnervt und zerrt ihn unsanft aus dem Haus. Sie fährt ihn zum Schulhaus und droht, ihm am Abend das Fernsehen zu streichen. (Bodenmann, 2014)

Desensibilisierung und Gegenkonditionierung

Gegenkonditionierung
Die Methoden der Verhaltenstherapie in den 1940er und 50er Jahren beschäftigten sich vor allem mit dem Abbau von Ängsten und Neurosen mittels Techniken der klassischen Konditionierung (Kriz, 2007). Die Desensibilisierungi st eines der ältesten und etabliertesten verhaltenstherapeutischen Konzepte und basiert auf dem Prinzip der Gegenkonditionierung.

Die Verbindung zwischen Angst und dem auslösenden Reiz (der ggf. auch eine ganze Situation umfassen kann) wird als konditioniert aufgefasst, wie z. B. die Angst des kleinen Albert vor «pelzartigen Gegenständen» im Versuch von Watson. Nun wird in einem neuen Konditionierungs-Experiment zu diesem CS eine andere, positive Reaktion konditioniert, etwa das positive Gefühl beim Essen von Süssigkeiten. Diese neue Verbindung hemmt und verdrängt die alte. (Kriz, 2007)

Systematische Desensibilisierung
Die Methode der systematischen Desensibilisierung besteht aus mehreren Teilschritten: Zuerst wird mit dem Patienten zusammen eine Angsthierarchie erstellt (Einordnung der vorhandenen Ängste nach Intensität). Nachdem sich der Patient durch ein Trainingsverfahren entspannt hat, wird er aufgefordert, sich mit den aufgelisteten Angstsituationen (angefangen mit den schwächsten) gedanklich zu beschäftigen. Die Angsthierarchie wird so stufenweise abgearbeitet; wenn starke Angstsymptome auftreten, wird wieder eine Entspannungsphase eingelegt. In der klinischen Praxis wird die systematische Desensibilisierung für ein breites Spektrum von Symptomen angewendet, vor allem für Phobien verschiedener Art.

Expositionstherapie
Die systematische Desensibilisierung beruht auf gedanklicher Konfrontation mit den Ängsten. Bei bestimmten Angststörungen ist aber auch eine Konfrontation mit den realen angstbesetzten Situationen und Objekten sinnvoll und nützlich (in vivo). Auch hier erfolgt üblicherweise eine schrittweise Annäherung an höhere Angststufen.

Flooding
Im Gegensatz zum langsamen Prozess der Desensibilisierung wird bei der Technik des Flooding sofort mit einer Situation höchster Angstintensität gearbeitet. Die Angst steigt anfänglich stark an und sinkt dann langsam ab; ein Habituationsprozess setzt ein (Kriz, 2007).

Eine Konkurrenzhypothese zur systematischen Desensibilisierung behauptet, dass sich ein Gewöhnungseffekt durch mehrfache Darbietung eines Reizes einstelle, was ebenfalls als Habituation bezeichnet wird (siehe weiter unten).

Einigen Therapiemethoden in der Angstbehandlung liegt das Prinzip der Gegenkonditionierung zugrunde. Hierbei werden vormals konditionierte Reize mit unkonditionierten Reizen verbunden, die angenehme Qualität haben. Die vormals negative Reaktion (wie z. B. Angst) auf den konditionierten Reiz wird dann durch eine positive Reaktion überformt. Ein Beispiel dafür sind Konfrontationsverfahren im Rahmen der Angstbehandlung, bei denen die Betroffenen angeleitet werden, sich wiederholt einem konditionierten Reiz auszusetzen, bis die konditionierte Reaktion nachlässt und der konditionierte Reiz wieder mit neutralen Konsequenzen (z. B. im Kaufhaus sein und keine Angst haben) verknüpft wird. Eine direkte Neuverknüpfung wird bei der Systematischen Desensibilisierung vorgenommen, bei der die Patienten sich einen angstauslösenden Reiz (CS) vorstellen und daraufhin eine eingeübte Entspannungsreaktion als [zur] Angst inkompatible angenehme Konsequenz ausführen. (Petermann et al., 2011)

Video: Folge klassischer Konditionierung

Im folgenden Videoausschnitt erläutert Prof. Dr. Guy Bodenmann das Zustandekommen von abweichendem Verhalten als Folge einer klassischen Konditionierung (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014). Die Beispiele beziehen sich auf die am Kapitelanfang präsentierte Fallvignette.

Habituation

Unter Habituation versteht man eine Abnahme der Reaktionsbereitschaft auf einen mehrfach dargebotenen Reiz.
Ein Organismus reagiert auf neue Situationen und Reize mit erhöhter Aufmerksamkeit und Hinwendung. Dies wird als Orientierungsreaktion bezeichnet. Damit kann der Organismus eine Situation schnell erfassen und darauf reagieren. Mit der wiederholten Darbietung ist der Reiz für das Individuum nicht mehr «neu», so dass sich die Orientierungsreaktion abschwächt (Reinecker, 2005).

Beispiel: Wenn man zum ersten Mal in einem Raum mit einer laut tickenden Uhr zu schlafen versucht, so stört das Ticken zunächst enorm (das heisst es handelt sich um einen neuen Reiz, dem man Aufmerksamkeit schenkt). Nach einer gewissen Zeit stellt man fest, dass man das Ticken gar nicht mehr wahrnimmt, das bedeutet, man hat sich mit dem Ticken abgefunden oder habituiert. (Reinecker, 2005)
Der Prozess der Habituation ist von der Ermüdung einerseits und von der Löschung andererseits abzugrenzen: Von Ermüdung spricht man dann, wenn sich nach dem häufigen Ausführen eines Verhaltens ein Nachlassen an Spannung und Reaktionsstärke zeigt (zum Beispiel Abnahme des Muskeltonus nach einer anstrengenden Tätigkeit; Abnahme der Konzentrationsleistung nach der Lektüre eines Textes usw.). Charakteristisch für die Ermüdung ist die Abnahme von Leistung im zeitlichen Verlauf. Prozesse der Ermüdung werden in vielen Definitionen des Lernens explizit ausgeschlossen.
(Reinecker, 2005)

Primäre und sekundäre Verstärker

Als Verstärker werden Verhaltenskonsequenzen bezeichnet, die regelmässig (kontingent) auf ein bestimmtes Verhalten erfolgen und dadurch die Auftretenswahrscheinlichkeit oder Ausführungsgeschwindigkeit dieses Verhaltens erhöhen.

Primäre Verstärker befriedigen in der Regel physiologische, nicht erlernte Bedürfnisse (z.B. Essen, Trinken, Körperkontakt) [1] und wirken verstärkend, ohne dass vorher Lernen stattgefunden hat (Lefrançois, 2006).

 

Bild mit klatschenden Händern.Sekundäre Verstärker sind Ereignisse, die ursprünglich nicht verstärkend wirken, aber durch Paarung mit anderen Verstärkern eine verstärkende Wirkung entwickeln (Lefrançois, 2006). Sie sind lediglich die Ankündigung oder das Versprechen eines primären Verstärkers. Ein typischer sekundärer Verstärker ist Geld, das ursprünglich selbst keine Bedürfnisse befriedigt. Sekundäre Verstärker sind durch klassische Konditionierung aus primären Verstärkern entstanden und erlangen ihre Bedeutung durch Kontingenz mit diesen Verstärkern (z.B. Geld für Nahrung).

Das Licht in der Skinnerbox wird zuweilen als sekundärer Verstärker verwendet. Wenn über eine Reihe von Durchgängen jedesmal das Licht angeschaltet wird, wenn das Tier gefüttert wird (einen primären Verstärker erhält), wird das Tier mit der Zeit reagieren, sobald das Licht angeht. Wenn dies geschieht, hat das Licht die Eigenschaft eines sekundären Verstärkers entwickelt. (Lefrançois, 2006).

Welche Bedeutung hat sekundäre Verstärkung?

Sekundäre Verstärkung hat in der pädagogischen Praxis eine grosse Bedeutung. Viele Verhaltensweisen sind nicht durch primäre, sondern durch sekundäre Verstärkung motiviert. Eine wichtige Funktion sekundärer Verstärkung besteht darin, Zeiträume ohne primäre Verstärkung zu überbrücken. Lernen kann somit auch dann erfolgen, wenn keine primären Verstärker verabreicht oder keine primären Bedürfnisse befriedigt werden (Reinecker, 2005). In der Pädagogik wichtige sekundäre Verstärker sind z.B. Lob, Preise, gute Noten etc. Die Relevanz sekundärer Verstärkung für die Praxis der Verhaltenstherapie ist ebenfalls sehr hoch, wie das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel für Erklärungsversuche der Drogenabhängigkeit:
In seinen Überlegungen weist Wikler (1976) auf die Bedeutung sekundärer Verstärkung bei der Einnahme von Drogen hin, wobei sowohl Aspekte des klassischen, als auch des instrumentellen Konditionierens eine bedeutende Rolle spielen (Die Ursachen für die Einnahme von Drogen sind natürlich heterogen; die sekundäre Verstärkung ist ein Faktor unter vielen).
Wikler (1976) zeigt, dass zur Verwendung von Drogen zumeist Rituale gehören, die als sekundäre Stimuli aufgefasst werden können. Neben der pharmakologischen Wirkung verschiedener Drogen spielen solche situationalen Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle. In die Klasse der Rituale und damit sekundären Verstärker gehören spezielle Merkmale des Settings (zum Beispiel Beleuchtung, bestimmte Lokale etc.) ebenso wie einzelne Handlungen (zum Beispiel Einnahme des Alkohols in bestimmten Gläsern; Reinigung von «Besteck» bei der Drogeneinnahme usw.) und soziale Bedingungen (etwa das Dazugehören, das sich in vagen Beschreibungen der Erlebnisse manifestiert und eine bestimmte Gemeinsamkeit unterstellt). (Reinecker, 2005).

[1] Essen und Trinken als primäre Verstärker reduzieren Hunger und Durst.

Primäre und sekundäre Verstärker dürfen nicht verwechselt werden mit positiven und negativen Verstärkern, wie sie im Kapitel über Skinner (Klassische Lerntheorien > Skinner: Operante Konditionierung) beschrieben sind:
Ein positiver Verstärker ist jeder Reiz, der die Wirkreaktion begünstigt, wenn er unmittelbar auf diese Reaktion erfolgt. Negative Verstärker sind Reize/Stimuli, die zu erhöhter Reaktionsfrequenz führen, wenn sie weggelassen werden.

Das Token-System

Einfaches Belohnungssystem für Kinder. Smileys können auf einem Sammelbogen abgelegt werden.
(c) mamaot.com

Das Token-System (Token Economy) ist ein Verfahren der Verhaltenstherapie, das auf Prinzipien der operanten Konditionierung beruht (oft auch als Belohnungsplan bezeichnet). Ziel ist der Aufbau erwünschten Verhaltens durch Verwendung systematischer Anreize. Da belohnende Verstärker (Aktivitäten oder Dinge, die vom Betroffenen geschätzt oder gewünscht sind) häufig nicht unmittelbar zur Verfügung stehen, wenn das erwünschte Verhalten gezeigt wurde, werden in einem Token-System Tokens (engl. Münzen) zur zeitlich kontingenten Verstärkung des Zielverhaltens eingesetzt. Tokens werden also verwendet, um die zeitliche Verzögerung zwischen dem erwünschten Verhalten und der «eigentlichen» (primären) Verstärkung zu überbrücken.
Ähnlich wie bei Geld handelt es sich bei einem Token um einen sog. generalisierten Verstärker, d. h. einen (konditionierten) sekundären Verstärker, der für ganz verschiedene Bedürfnisse eingesetzt werden kann. Tokens sind z. B. Chips, Punkte, Smileys, Murmeln, Kredit in einem Kreditkartensystem, Scheckheftsystem etc. Diese Tokens kann der Betreffende später nach einem vorher festgelegten Plan eintauschen gegen den (begehrten) primären Verstärker.

Token-Systeme werden im Rahmen der Kinderpsychotherapie angewendet, stammen aber ursprünglich aus der Psychiatrie und Sonderpädagogik, wo sie z.B. zur Reduktion von aggressivem Verhalten eingesetzt werden (Petermann et al., 2011).

Die Karikatur zeigt einen Lehrer, der eine Schülerin mit Pokal und Krone belohnt.
(c) Lefrançois (2006)

Video: Folge operanter Konditionierung

Im folgenden Videoausschnitt erläutert Prof. Dr. Guy Bodenmann das Zustandekommen von abweichendem Verhalten als Folge einer operanten Konditionierung (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014).

 

Löschung

Löschung oder Extinktion ist ein Lernprinzip der operanten Konditionierung. Dabei werden die Konsequenzen eines Verhaltens unterdrückt oder aufgehoben, so dass das betreffende Verhalten allmählich nicht mehr gezeigt wird. Wenn der Verstärker unterdrückt wird, kann das Verhalten anfänglich sogar noch intensiviert werden, bevor es verschwindet. Diese Technik kann dann angewendet werden, wenn ein Verhalten aufgrund positiver Verstärkung aufrechterhalten wird und die Verstärkung unter der Kontrolle z.B. des Lehrers oder Therapeuten ist. Bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen können gelöscht werden, indem man sie nicht beachtet.

Ein Beispiel stellt ein quengelndes Kind dar, das an der Supermarktasse gern etwas Süsses gekauft haben möchte. Ignoriert die Mutter das Quengeln, kann es sein, dass das Kind zunächst noch heftiger reagiert, sich z. B. auf den Boden wirft oder schreit. Ignoriert die Mutter das Kind jedoch weiterhin, wird es in der Regel mit dem Verhalten aufhören, da es lernt, dass es auf diesem Weg nichts erreicht. Löschung stellt eine der wirksamsten Methoden zum Abbau unerwünschten Verhaltens dar, ist in der Praxis jedoch häufig mit hohen Anforderungen an die Disziplin und die Konsequenz der Durchführenden verbunden. (Petermann et al., 2011)
Löschung ist der Entzug jeglicher aufrechterhaltender Verhaltenskonsequenzen. (Petermann et al., 2011)

Kontingenz und Kontiguität

Verschiedene Bedingungen müssen für einen gelingenden Lernprozess erfüllt sein, der auf Verstärkungslernen beruht.

Kontingenz bezeichnet die Stärke des Zusammenhangs zwischen dem relevanten Verhalten und der Konsequenz (Petermann et al., 2011).

Der Zusammenhang muss möglichst eng sein; die Konsequenz sollte nur als Folge dieses speziellen Verhaltens auftreten und nicht unter anderen Bedingungen.

Kontiguität beschreibt den zeitlichen Zusammenhang zwischen Verhalten und Konsequenz (Petermann et al., 2011).

Der zeitliche Abstand zwischen Verhalten und folgender Konsequenz sollte dabei möglichst kurz sein.

Generalisierung und Diskrimination

Generalisierung bedeutet, dass ein Organismus bereits gelerntes Verhalten auch als Reaktion auf ähnliche Stimuli und neue Situationen anwendet. Durch die wiederholte Konfrontation mit ähnlichen Stimuli und Situationen lernt der Organismus aber auch, kleine Unterschiede in den einzelnen Situationen wahrzunehmen, was als Diskrimination bezeichnet wird. Generalisierung und Diskrimination sind für das menschliche Lernen sehr wichtig. Das differenzierte Zusammenwirken von Generalisierung und Diskrimination ermöglicht die Flexibilität unseres Verhaltensrepertoires.

Ein Beispiel dafür ist die Taube, die sich in Reaktion auf das Wort picken dreht,

Das Bild zeigt eine Taube im Skinnerkäfig, der das Wort "Pick" präsentiert wird.
(c) youtube

bevor sie gelernt hat, zwischen drehen und picken zu diskriminieren. Ein weiteres Beispiel ist der vielleicht weitaus beeindruckendere Befund, dass Tauben relativ leicht lernen, zwischen kugelförmigen und nicht kugelförmigen Stimuli zu unterscheiden und, nach weniger als 150 Trainingsdurchgängen, das «Konzept» kugelförmig auf hunderte anderer Stimulusobjekte übertragen. (Lefrançois, 2006)

Wie wir am Beispiel des kleinen Albert gesehen haben, nahm John B. Watson an, dass emotionale Reaktionen genau wie Verhaltensweisen durch Konditionierung erworben werden können.

Als Reizgeneralisierung bezeichnet man die Übertragung der konditionierten Reaktion auf Reize, die verschiedene Merkmale mit dem konditionierten Reiz teilen. (Petermann et al., 2011)

Beispiele für die Generalisierung im menschlichen Verhalten: «alte» Verhaltensweisen werden auf neue Situationen übertragen:

Neue Autos werden auf ähnliche Weise wie alte gefahren; jemand, der zufällig einen Fremden schubst, entschuldigt sich, obwohl er diesen speziellen Fremden niemals zuvor geschubst hat; ein Farmer überlegt bei der Aufgabe, 27 Kängurus und 28 Zebras zu addieren, dass die Summe dieselbe sein muss wie die von 27 Schweinen und 28 Pferden; Menschen gehen davon aus, dass Dinge von Berggipfeln genauso herabfallen wie von Bäumen; Fremde geben einander die Hand, wenn sie vorgestellt werden usw. Alle diese Handlungen sind Beispiele von Reaktionen auf neue Situationen, die auf vorherigem Lernen basieren. Generalisierung ist deshalb wichtig, weil nicht alle, noch nicht einmal die meisten, Situationen, auf die Menschen in ihrem Leben reagieren müssen, in der Schule oder anderen Lernsituationen gelehrt werden können. Das Vermitteln der Fähigkeit zur Generalisierung (Transfer) ist eine der Hauptfunktionen der Schule. (Lefrançois, 2006)

Das Bild zeigt eine Hand die zwischen weissen und roten Zwiebeln unterscheidet.

 

Diskrimination verhält sich komplementär zur Generalisierung. Die Einzelheiten ähnlicher Situationen werden in der Wahrnehmung unterschieden, damit darauf angemessen reagiert werden kann. Die Taube, die gelernt hat, auf die Präsentation der beiden Wörter picken und drehen unterschiedlich zu reagieren, zeigt uns das Diskiminationslernen, das für das menschliche Verhalten ebenso wichtig ist wie die Fähigkeit zu generalisieren.

Kinder müssen schon sehr früh lernen, zwischen ähnlichen Situationen, die unterschiedliche Reaktionen erfordern, zu diskriminieren. Kinder lernen z.B., dass man seine Eltern küssen darf, aber Fremde nicht; dass man seine Schwestern nicht boxen darf, aber böse Jungen aus der Nachbarschaft unter gewissen, klar diskriminierbaren (unterscheidbaren) Umständen schon; dass man in stillen Kirchen keine lauten Geräusche machen darf, in stillen Häusern aber schon usw. Daher ist sozial angepasstes Verhalten in hohem Masse eine Funktion des Lernens, ähnliche Situationen, die verschiedene Verhaltensweisen erfordern, unterscheiden zu können. (Lefrançois, 2006)
Den zur Generalisierung komplementären Prozess bezeichnet man als Diskrimination. Man versteht darunter die Fähigkeit des Organismus, bereits auf leicht unterschiedliche Situationen auch unterschiedlich zu reagieren (Reinecker, 2005).

Sowohl Diskriminations als auch Generalisierungslernen spielen eine wichtige Rolle beim Erwerb sozialer Regeln. Kinder lernen, bestimmte Umgangsformen mit Gesichts- oder Sprachausdruck in Beziehung zu bringen oder bestimmte Hinweisreize mit bestimmten Verhaltensregeln gleichzusetzen (Petermann et al.; 2011).

Shaping und Chaining

Shaping (Verhaltensformung) wird angewendet, wenn das auszuformende Verhalten noch nicht im natürlichen Verhaltensrepertoire einer Person verankert ist oder andere Lernformen aufgrund von Beeinträchtigungen nicht eingesetzt werden können. Beim Shaping wird zunächst jede Verhaltensweise verstärkt, die in die Richtung des gewünschten Verhaltens zeigt. Allmählich werden Verhaltensweisen verstärkt, die dem Zielverhalten immer ähnlicher werden, bis schliesslich nur noch das gewünschte Verhalten verstärkt wird (Petermann et al., 2008).

Will man beispielsweise einem Kind beibringen, mit einem Löffel zu essen, kann zunächst das alleinige Greifen des Löffels durch Lob verstärkt werden. Im nächsten Schritt wird nur verstärkt, wenn das Kind den Löffel richtig in der Hand hält; in anschliessenden Schritten erfolgt Verstärkung nur noch, wenn das Kind den Löffel zum Mund führt und so weiter. (Petermann et al., 2008)
Das Bild zeigt einen Waschbären, der einen Ball in den Korb befördert.
(c) www.massey.ac.nz/

 

Beim Chaining (Kettenbildung) wird eine Handlungskette in mehrere kleine Sequenzen zerlegt. Das zuletzt gelernte Glied der Verhaltenskette dient als sekundärer Verstärker für das nächstfolgende Verhalten und ermöglicht schliesslich das Erlernen von komplexeren Verhaltensweisen.

 

Ein Beispiel für Chaining ist das Vermitteln der Reihenfolge, in der ein Kind sich anziehen soll. Das Chaining kann sowohl vorwärts als auch rückwärts durchgeführt werden. Vorwärts-Chaining würde bedeuten, dass ein Kind zunächst für das Anziehen der Unterwäsche gelobt wird, unabhängig davon, was als nächstes passiert. Im zweiten Schritt wird es nur noch verstärkt, wenn es Unterwäsche und T-Shirt in der richtigen Reihenfolge anzieht. Dies wird fortgesetzt bis die Verhaltenskette vollständig ist. Das Chaining kann auch rückwärts erfolgen, das heisst man beginnt mit der Verstärkung beim Anziehen der Schuhe und durchläuft die Verhaltenskette von diesem Punkt aus rückwärts. (Petermann et al., 2008, S.49)

Für die pädagogische Praxis könnte das heissen, dass eine Handlungskette in kleine, leicht ausführbare Schritte zerlegt wird und entsprechende gezielte Verstärkung angewendet wird (das Kind lernt z.B., sauber zu werden, sich anzuziehen, Ordnung zu halten). Voraussetzung: Erste Ansätze zu einem Verhalten müssen beobachtet, entdeckt, evtl. gesucht werden (Förderdiagnostik, Verhaltensbeobachtung, Suche nach Anknüpfungspunkten). (Bundschuh, 2008, S. 275)

 

Literatur

Bundschuh, K. (2008). Heilpädagogische Psychologie (UTB Sonder- und Heilpädagogik, Psychologie, 4. Aufl.). München: Reinhardt.

Kriz, J. (2007).Grundkonzepte der Psychotherapie (6. Aufl.). Weinheim: Beltz PVU.

Lefrançois, G. R. (2006). Psychologie des Lernens (4. Aufl.). Heidelberg: Springer.

Petermann, F., Maercker, ., Lutz, W. & Stangier, U. (2011). Klinische Psychologie – Grundlagen (Bachelorstudium Psychologie). Göttingen: Hogrefe.

Reinecker, H. (2005). Grundlagen der Verhaltenstherapie (3. Aufl.). Weinheim: Beltz PVU.

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