Systemische Modelle

52 Neuere Entwicklungen

Die narrative Perspektive

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Das Narrativ
Der Einfluss postmoderner narrativer Ideen machte sich auch in der systemischen Theorie und Therapie seit den 1990er Jahren (sog. narrative Wende) bemerkbar (Herman et al., 2015). Ausgehend von den strukturalistischen narrativen Theorien hat sich das Narrativ (in verschiedenen Ausprägungen des Begriffs) zu einer wichtigen Grundlage vieler interdisziplinär verknüpfter Forschungsansätze entwickelt. Narrative sind der Ausdruck kognitiver und kommunikativer Prozesse und gelten als grundlegende menschliche Strategie, mit der sich das Individuum Sinn verschafft und sich in der Welt bewegt. Dabei geht es vor allem um das kommunikative Aushandeln von unterschiedlichen Realitätskonstruktionen.
Unsere Realität ist in hohem Masse durch Sinndeutungen, die zu Erzählungen verwoben sind, aufgebaut und wird als episodisches Wissen in Erzählungen gespeichert und weiterentwickelt. Die Einzelheiten im Strom sinnlicher Erfahrungen müssen zu Narrativen zusammengefasst werden, wenn sie wiedererinnert werden sollen: »Was nicht narrativ strukturiert wird, geht dem Gedächtnis verloren«, lautet eine Aussage von Jerome Bruner (1997, S. 72, zit. nach Kriz, 2014). Aber die Narrative unterscheiden sich von den eigentlichen Erfahrungen, denn Erzählungen unterliegen den Regeln der Sprache — in ihrer Struktur, in ihrer Art der Veränderung und der Anpassung an andere Kontexte (Kriz, 2014).

Einbezug von Sinndeutungen
Diese Ideen bewirkten, dass die Konzepte und Arbeitsweisen der Familien- und Systemtherapien modifiziert wurden und zunehmend konstruktivistische Aspekte Berücksichtigung fanden. Systemische Therapeuten merkten, dass sie in die Narrative über Probleme, Symptome und die Krankheit ihrer Klienten sowie über deren Veränderungsmöglichkeiten mit eingebunden sind, und dass sie ihre Klienten nicht nur strategisch von aussen her beeinflussen (siehe Vertiefung: Kybernetik zweiter Ordnung). Dies führte in der Therapie von der distanzierten Intervention zur gemeinsamen Konversation: zum therapeutischen Gespräch aller Beteiligten über Sinndeutungen in Form von Problemen, Lösungsmöglichkeiten und Erklärungen (Kriz, 2014).
In diesem Zusammenhang wurde auch die Interdependenz zwischen individueller und sytemischer Realität wieder entdeckt. Das von vielen Systemikern als «Relikt einer antiquierten epistemologischen Sichtweise» diskreditierte Subjekt wurde nun wieder stärker in das therapeutische Geschehen und in die Interventionen einbezogen (Kriz, 2014). Die Narrative entstehen zwar in sozialen Situationen und Systemen, werden da ausgehandelt, weiter gesponnen und tradiert, aber das Verständnis findet letztlich innerhalb des einzelnen Menschen statt.

Kybernetik zweiter Ordnung

Die Kybernetik zweiter Ordnung ist eine Theorie der Beobachtung der Beobachtung. Der Beobachter und das Beobachtete bzw. Intervenierender und das System, in das interveniert wird, sind nicht mehr streng voneinander zu trennen.

Beobachtung zweiter Ordnung

  • Erfinder dieser zweiten Ordnung ist Heinz von Foerster, in seiner Sprache heisst sie: Kybernetik 2. Ordnung (second order cybernetics oder cybernetics of cybernetics).
  • Beobachtung (erster Ordnung) gibt Orientierung und Gewissheit in der Welt zu sein, «Leben und Beobachten ist gleichbedeutend» (Maturana, 1994).
  • Beobachtungen entstehen nicht absolut sondern relativ. Sie sind abhängig von den strukturellen Voraussetzungen (Strukturdeterminiertheit) der BeobachterInnen.
  • Beobachtung zweiter Ordnung entsteht durch die Beobachtung der Beobachtung. Dabei erkennen wir die eigenen strukturellen Voraussetzungen als Bedingung der Beobachtung. Die Grundannahme besteht darin, dass «alles Gesagte von jemandem gesagt» ist (Maturana & Varela, 1987).

Quelle: http://www.dgsp.org/glossar/

Narrative Ansätze

Foto von Michael White
Michael White (c)Wikipedia

Narrative Therapie
Die narrative Therapie entwickelte sich unter dem Einfluss postmoderner Theorien und betont die konstruktiven Aspekte, unter denen Sinndeutungen, verwoben zu Narrativen (Erzählungen), Realität erzeugen. Wichtige Wegbereiter der narrativen Therapie waren Michael White und David Epston in den 1980er Jahren. In ihrer Theoriekonzeption nimmt der Begriff Erzählung eine zentrale Rolle ein. Erzählungen werden als narrative Strukturen angesehen, die es Individuen und Systemen ermöglichen, einerseits Erfahrung und Wahrnehmung von Wirklichkeit, andererseits Handeln und Interaktion zu organisieren. In der Therapie geht es darum, durch Veränderung der Geschichten, mit denen das Individuum seine Situation sowie sein Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst beschreibt, neue Perspektiven zu eröffnen. Die zugrunde liegende Metapher ist die, dass Menschen das eigene Leben in Narrativen organisieren. In Anekdoten, alltäglichen Gesprächen, aber auch in Briefen oder Tagebüchern interpretieren wir unser Leben auf bedeutsame Weise und betonen dabei bestimmte Aspekte unseres Erlebens und blenden andere aus.

Das reflektierende Team
Durch das reflektierende Team (nach Andersen) sollen neue Verstehens- und damit Handlungsmöglichkeiten für ein Problem entwickelt werden. Die hierfür meist von einem ganzen Therapeutenteam geäusserten vielfältigen Narrationen sollen mit positiven Konnotationen verbunden sein, in Konjunktivform geäussert werden und nicht auf Kosten anderer Personen gehen. Sie sind besonders dann wirksam, wenn sie an vorhandenen Tendenzen anknüpfen und aktuelles Handeln mit einbeziehen. In Erweiterung dieses Ansatzes spricht man vom kontextualisierenden oder fokussierenden Team (Kriz, 2014, S. 296).

Weitere Texte zu narrativen Ansätzen

Begründer der narrativen Therapie waren Michael White und David Epston (Epston & White 1992, White & Epston, 1990). In der narrativen Therapie wird die Problemgeschichte, die Klienten erzählen, durch die Fragen der Therapeuten angereichert und erweitert mit mehr Details, sodass die Geschichte näher an die Realität kommt. Dahinter steckt die Idee, dass die Problemgeschichte wichtige Aspekte auslässt, die aber hilfreich zu sehen sind: Widerstand gegen das Problem, biographische Gründe für das Fehlverhalten, ein gesellschaftlicher Hintergrund einer schwierigen Zeit, moralische Werte die erklären, warum man ist wie man ist. So ist es möglich, eine neue Haltung zu sich selbst und dem Problem zu finden, die umfassender als die in der ursprünglichen Erzählung formulierte ist. (Quelle: http://www.ifrhamburg.de/index.php?ifrpage=narrative-therapie)

«Narrative Therapie fokussiert fast ausschließlich auf den Aspekt der Semantik». White bezog sich damit auf Batesons interpretative Methode als Basis seiner Theorie und postulierte, dass Probleme nicht aufgrund von verborgenen Strukturen oder Dysfunktionen entstehen, sondern dass es die Bedeutungen sind, die Gegebenheiten zugeschrieben werden, die dann unser Verhalten bestimmen. White und seine Kollegen nehmen an, dass Menschen ihrem Leben und ihren Beziehungen Bedeutungen geben, indem sie Geschichten über ihre Erfahrung und ihr Erleben entwickeln. Indem Sie ihre Version ihrer Geschichte anderen erzählen, formen sie ihr Leben und ihre Beziehungen mit anderen Menschen. (http://www.muenchner-familien-kolleg.de/pdf/morgan-mueller_moskau_wasistnarrativetherapie.pdf)

Weitere Literatur

Boothe, Brigitte. (2011). Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart: Schattauer.
McLeod, John. (1997). Narrative and psychotherapy. London: Sage.

 

Personzentrierte Systemtheorie

Eine Fotografie von Jürgen Kriz.
Jürgen Kriz (c) systemische-gesellschaft.de/

Die personzentrierte Systemtheorie wird von Jürgen Kriz seit drei Jahrzehnten entwickelt mit dem Ziel, die komplementäre Perspektivenvielfalt der neueren Entwicklungen in den verschiedenen Modellen der Psychotherapie in einer intergrativen Sicht miteinander zu verbinden und in Beziehung zu setzen.
Kriz (2014, S. 305) formuliert die zentralen Anliegen der personzentrierten Systemtheorie folgendermassen:

Die personzentrierte Systemtheorie (PZS) ist eine Mehr-Ebenen-Konzeption zum Verständnis von psychotherapeutischen und klinischen Prozessen unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens unterschiedlicher Ebenen (u. a. körperliche, psychische, interpersonelle und gesellschaftliche Prozesse). Es geht dabei im Kern um die erklärungsbedürftigen Fragen,

  1. wie wir Menschen aus der unfassbaren Komplexität einer physikalisch-chemischen und informationellen Reizwelt unsere Lebenswelt mit hinreichend fassbarer, sinnhafter Ordnung erschaffen,
  2. wie diese sich typischerweise an stets neue Bedingungen und Herausforderungen (Entwicklungsaufgaben) anpasst,
  3. warum diese Adaptation aber auch partiell misslingen und sich insbesondere als überstabil und inadäquat erweisen kann — was für Probleme und viele Symptome typisch ist —, und letztlich
  4. wie professionelle Hilfe unter Nutzung von Ressourcen und Selbstorganisationspotenzialen gestaltet werden kann.

Eines der Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie ist es, methoden- und schulenübergreifend die Wirkungsweise von Psychotherapie, allgemeiner von klinischen Prozessen, zu erklären. Kriz bezieht sich einerseits auf die systemtheoretischen Konzepte der Gestalttheorie und der humanistischen Psychotherapie (besonders auf den personzentrierten Ansatz von Carl Rogers), andererseits auf Konzepte der modernen naturwissenschaftlichen Systemtheorie (besonders der Synergetik). Im Gegensatz zur systemischen und Familientherapie wird der Fokus in der personzentrierten Systemtheorie allerdings nicht primär auf die Muster in Interaktionen bzw. Kommunikationen gelegt, sondern auf die Person. Zentrale Aspekte wie Sinn, Bedeutung oder Kohärenz finden primär auf der Ebene personaler Prozesse statt, auch wenn diese ganz erheblich durch soziale Prozesse in ihrer biographischen und historischen Dynamik beeinflusst werden. Ein Sozialsystem kann etwas als «sinnvoll» definieren und/oder vorschreiben – aber ob es als etwas Sinnvolles erfahren wird, ist ein Prozess innerhalb der Person.
Entsprechend dem Modell der Synergetik werden in der personzentrierten Systemtheorie sowohl die Kommunikation zwischen Menschen (Paaren, Familien, Organisationen) als auch die Vernetzung zu internen Prozessen (Wahrnehmung, Denken, Fühlen) in ihrer systemischen Wirkung von unten nach oben (Bottom-up) als auch von oben nach unten (Top-down) in ihrer komplexen Wechselwirkung beschrieben (Quelle: Wikipedia).

In einem längeren Videointerview mit Werner Eberwein erklärt Jürgen Kriz die Grundlagen der personzentrierten Systemtheorie und bringt dabei viele Konzepte der Systemtheorie zur Sprache. Im folgenden Videoausschnitt aus diesem Interview begründet Jürgen Kriz die Vor- und Nachteile des personzentrierten Ansatzes von Rogers und der systemischen Ansätze; diese beiden Ansätze versucht er in der PZS zu kombinieren (Link: https://www.youtube.com/watch?v=ze5dG10qzF8; gesamtes Interview ca. 50 Min.).

 

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