Systemische Modelle
53 Systemtheorie: Bezüge zur Heilpädagogik
Systemische Pädagogik und Systemik als Haltung
Systemisches Denken und Handeln ist Ausdruck einer besonderen Haltung gegenüber sich selbst und der Welt
(Arnold & Arnold-Haecky, 2009). Um sich diese Haltung anzueignen, braucht es
- systemisches Wissen,
- systemische Kompetenz und
- Bereitschaft zur Selbstreflexivität.
Diese drei Voraussetzungen ermöglichen eine Haltung, die systemische Handlungskompetenz in der professionellen Begleitung von Veränderungsprozessen umsetzt.
Systemisches Wissen
Systemisches Wissen hilft uns, den Eigentümlichkeiten unserer Wahrnehmung und den Entwicklungsmechanismen des Lebendigen Rechnung zu tragen. Arnold und Arnold-Haecky (2009) favorisieren einen «mittleren Weg der Erkenntnis», der sowohl den objektivistischen Kurzschluss als auch den naiven Subjektivismus vermeiden soll und formulieren die folgenden Erkenntnisse:
Die Interaktion mit der Umwelt ermöglicht das Überleben eines Systems. Soziale Systeme leben gerade durch Kommunikation und schaffen dadurch Sinn.
Mit dieser etwas willkürlichen Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit wird an die Konstruktivität und Selbstbezüglichkeit unserer Wahrnehmung erinnert. Wir blicken immer perspektivisch und selektiv durch die Brille unserer Erfahrungen.
Damit wird es erforderlich, dass wir uns von einem einfachen linear-kausalen Ursache-Wirkungs-Denken lösen. Dieses ist für soziale Systeme nicht geeignet, weil es da wichtig ist, die Absichten und die Sinnzuschreibungen des Gegenübers zu verstehen, um gemeinsam handeln zu können. Dies erfordert Fähigkeiten zu einem reflektierten Umgang mit sich und andern.
Systemische Kompetenzen
Wenn die systemischen Erkenntnisse sich in den pädagogischen Fähigkeiten niederschlagen, entsteht eine neue Lehr- und Lernkultur: Lehren beinhaltet dann nicht mehr Instruktion im Sinne einer Übermittlung von Inhalten und Strukturen, sondern Anleitung und Begleitung von autonomen Veränderungsprozessen. Die Lehrperson ist dann Begleiterin für die Suchprozesse anderer. Daraus ergibt sich die paradoxe Anforderung, die Inhalte der Fächer zu beherrschen, aber gleichzeitig die suchende Aneigung durch die Schüler zu begleiten. Wichtige Erkenntnisse zu systemischen Kompetenzen (Arnold & Arnold-Haecky, 2009):
- Kenntnisse über die konstitutive Rollle der eigenen Beobachtung werden dann zu lebendigem Wissen, wenn sie mit der Fähigkeit verbunden werden, Vertrautes aufzugeben und die eigene Stimme des Bescheidwissens verstummen zu lassen.
- Nur wenn wir in der Lage sind, uns aktiv auf Überraschendes und Ungesichertes einzulassen, wird das Wissen um die Unmöglichkeit der in ihrer Auswirkung vorhersehbaren und planbaren Intervention für den schulischen Alltag nutzbar.
- Für eine systemische Sicht von Bildung stehen die Selbstlernfähigkeit und die Lernverantwortung des Subjekts im Zentrum der didaktischen Konzepte.
Aus systemischer Sicht ist es deshalb wichtig, die Fähigkeiten der Schüler zur Nutzung und Weiterentwicklung des eigenen Kompetenzportfolios systematisch zu fördern (Arnold & Arnold-Haecky, 2009).
Selbstreflexivität
- Professionelle Selbstreflexivität beginnt mit der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung.
- Nur wer imstande ist, das eigene Echo im vermeintlich Fremden zu erkennen, kann sich von Vorwürfen und Schuldzuweisungen befreien und sich dem Gegenüber annähern.
- Nur wenn wir die in uns gespeicherten Denk- und Fühlprogramme kennen, sind wir in der Lage, dem Gegenüber weitgehend unvoreingenommen zu begegnen.
- Fehler und Scheitern können uns zu neuen Formen des Denkens, Fühlens und Handelns führen.
- Feedback ist Nahrung für das persönliche Wachstum.
Systemische Haltung
Die in den oben stehenden Elementen und Überlegungen formulierten Wünsche an die Grundhaltung eines systemischen Pädagogen werden von Arnold und Arnold-Haecky (2009, S. 16) in einem so genannten «Code of Ethics» unter dem Titel «Der Eid des Sisyphos» beschrieben.
Leitsätze systemischen Denkens und Handelns
Arnold & Arnold-Haecky (2009, S. 19f.) formulieren fünf Leitsätze systemischen Denkens und Handelns, zugeschnitten auf Aspekte der systemischen Pädagogik und praktisch relevant bei der Konfrontation mit herausfordendem Verhalten.
- systemischer Leitsatz: Es gilt, die Bescheidenheitsposition einer reflexiven Beobachtung einzunehmen. Der Beobachter bildet die Realität nicht nur ab, sondern konstruiert sie durch die Möglichkeiten seines Erkennens. Das bedeutet, immer wieder in die Position des verwunderten Beobachters zurück zu gehen, auch wenn wir ein Phänomen zu verstehen glauben. Diese reflexive Wendung beinhaltet Fragen wie «Wann habe ich etwas Ähnliches zum erstenmal erlebt? Sind andere Deutungen möglich?».
- systemischer Leitsatz: Jedes Problem ist immer auch schon eine mögliche Lösung. Problemzuschreibungen basieren meistens auf unterschiedlichen Konstruktionen der Wirklichkeit. Die ganze Wahrnehmung wird selektiv auf das Problem fokussiert; dadurch wird der störende Schüler erst konstruiert. Die selbstreflexiven Fragen nach dem Problembesitz und nach dem heimlichen Nutzen ungelöster Probleme helfen uns, die Situation anders zu deuten und zu lösen.
- systemischer Leitsatz: Die Welt ist nicht (nur) so, wie ich sie fühle! Unser Denken und Handeln ist häufig durch bereits im Vorfeld emotional festgelegte Bilder und Gefühle bestimmt. Die emotionale Gestimmtheit bestimmt, was wir aus einer Situation herauslesen oder in die Situation hineinlesen. Wer emotionale Kompetenz besitzt, kann seine spontan ausgelösten Reaktionen reflektieren, die z. B. durch eine provozierende Verhaltensweise ausgelöst werden. In emotional bedrängenden Situationen sollte man deshalb nicht dem ersten spontanen Impuls folgen!
- systemischer Leitsatz: Lass dich von der Wirklichkeit überraschen und belehren! Das systemische Denken postuliert, dass Ordnungen sich selbst herausbilden. Das heisst, Situationen und Prozesse können nicht nachhaltig von aussen reguliert werden. Interventionen, die diesem Umstand keine Rechnung tragen, lösen oft einen Systemwiderstand aus: die Systeme unterlaufen diese Absichten und kehren zur eigenen Ordnung zurück. Das heisst, man muss zuerst einmal auf das System lauschen.
- systemischer Leitsatz: «Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten vergrösserst!» (von Foerster, 1993, S. 51) Die eigenen Lesarten einer gegebenen Sitiation zu vermehren, ist eine wichtige Anforderung der systemischen Pädagogik. Professionelle Intervention geht weg von der spontanen Reaktion zu einem besonnenen Reagieren. Indirektes Intervenieren kennzeichnet das systemische Handeln. Eine selbstreflexiv-achtsame Form der Beobachtung führt zu anderen Interventionsformen (statt entschlossenem pädagogischem Handeln). Wir müssen über den eigenen Schatten springen und «uns verstehend dem zuwenden, was uns am meisten aufregt, kränkt oder verletzt» (Arnold & Arnold-Haecky, 2009).
Beispiel zu den Leitsätzen
Das folgende Beispiel «Kurt stört im Unterricht» illustriert die Leitsätze 1-5 (zitiert aus Arnold & Arnold-Haecky, 2009).
Literatur
Arnold, Rolf & Arnold-Haecky, Beatrice. (2009). Der Eid des Sisyphos. Eine Einführung in die systemische Pädagogik (Systhemia, Bd. 1). Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.
RTI-Ansatz: Inklusion statt Exklusion
Rügener Inklusionsmodell (RIM)
Das Rügener Inklusionsmodell, angewandt in der präventiven und integrativen Schule auf der Insel Rügen (PISaR) wurde von Prof. Bodo Hartke anlässlich der Fortbildungstage der HfH im Januar 2014 vorgestellt. Der theoretische Hintergrund für das Projekt liegt im Response to Intervention-Ansatz (RTI-Ansatz).
Die Ziele des Projektes bestehen in der Prävention von sonderpädagogischem Förderbedarf und in der Integration von Kindern mit bereits vorliegenden Entwicklungsstörungen in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung. Die Förderung erfolgt auf drei Ebenen. Beginnend im gemeinsamen Unterricht mit allen Kindern (FE I), werden zusätzlich auf der FE II Kinder in Kleingruppen gefördert, die nicht den erwarteten Lernerfolg im Klassenunterricht zeigen. Auf der Grundlage einer differenzierten Diagnostik werden Kinder auf der Stufe FE III durch den Sonderpädagogen zusätzlich individuell gefördert, sofern sich trotz intensiver Förderung auf der FE II zu wenig oder kein Lernerfolg zeigt. Die Erfolgserwartung und der einbezogene Schüleranteil auf den 3 Stufen FE ist unterschiedlich.
Im RIM werden Lehr- und Lernmethoden, Unterrichtsmaterialien und Förderprogramme eingesetzt, bei denen empirische Forschungsergebnisse nachgewiesen haben, dass die postulierte Effekte bei der Anwendung eintreten.
Zur Identifikation von Kindern mit Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten und zur Evaluation der Passung von Lernausgangslagen und Unterricht bzw. Förderung wird im RTI-Ansatz die Lernfortschrittsdokumentation (student monitoring) genutzt. Mit Hilfe von curriculumbasierten Messungen (CBM) werden die Lernfortschritte der Schüler in umschriebenen Lernbereichen zeitnah erfasst. Neben den Kurztests werden zusätzlich Screenings und standardisierte Messverfahren (Benchmarks) eingesetzt.
Kurzinformation zum Rügener Inklusionsmodell: Ruegener_Inklusionsmodell-Kurzinformation_zum_Projekt-Broschuere Kopie
Im folgenden Videoausschnitt präsentiert Prof. Dr. Bodo Hartke den RTI-Ansatz (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014).
Literatur
Hartke, Bodo & Vrban, Robert. (2011). Schwierige Schüler – 49 Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten. [1.-4. Klasse] (5. Aufl.). Buxtehude: Persen.
Video: Systemische Modelle und Heilpädagogik
In der folgenden Videoaufnahme spricht Marianne Wagner (Verantwortliche für das Ausbildungsmodul «Herausforderndes Verhalten») über systemische Konzepte in der Heilpädagogik und ihre praktische Anwendung.
Links
- Glossar systemischer Begriffe auf der Homepage der DGsP (Deutsche Gesellschaft für systemische Pädagogik): http://www.dgsp.org/glossar/
- Verbandszeitschrift Systemische Pädagogik: http://www.dgsp.org/angebote/zeitschrift-systemische-paedagogik/