Soziologische Modelle

61 Bezüge zur Heilpädagogik

Bezüge zur Heilpädagogik

Die Verstehens- und Erklärungsprozesse der Soziologie postulieren einen Vorrang des Sozialen; das individuelle Erleben, Denken und Handeln muss eingebettet in die sozialen Lebenszusammenhänge betrachtet werden (Scherr, 2013a)!

Das Bild zeigt ein Kind, umgeben von hektischen Personen.
(c) www.unifr.ch/

Wenn also z. B. beobachtet wird, dass ein Schüler wiederholt dem Unterricht fernbleibt, dann ist dies soziologisch nicht schon dadurch erklärt, dass mit alltagssprachlichen Deutungen oder psychologischen Fachbegriffen beschrieben wird, warum er Schule als emotionale Belastung oder als sinnlosen Zwang erlebt. Soziologie beginnt in diesem Fall dann, wenn über das Verstehen der subjektiven Motive hinaus danach gefragt wird, welche sozialen Bedingungen dazu beitragen, dass das Handeln des Schülers sich für ihn als subjektiv notwendige bzw. sinnvolle Praxis darstellt. Als bedeutsame soziale Bedingungen hierfür sind u. a. die folgenden in Rechnung zu stellen: die familiale Situation des Schülers, das Bildungsniveau und die beruflichen Positionen der Eltern, die tendenzielle Entwertung von Schulabschlüssen durch Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit, aber auch Eigenschaften des sozialen Systems Schule selbst, wie etwa die Zumutung eines Lernens, auf dessen Gegenstände und Themen Schüler kaum Einfluss haben… (Scherr, 2013a)

Ähnlich argumentiert Bundschuh (2008), wenn er sagt, dass man zwar oft versucht, auf Basis des pädagogischen Helferwillens unmittelbar dem Kind mit Behinderung zu helfen; es wird jedoch nicht reflektiert, inwieweit gesellschaftliche Verhältnisse seine Behinderung konstituieren, sie behandelbar oder aufhebbar machen. Das Verstehen von Menschen mit Behinderungen kann nur aus der Kenntnis der bisherigen sozialen Lebensbezüge und Prozesse unter Einbezug der primären und sekundären Erziehungspersonen sich entwickeln (Bundschuh, 2008, S. 304).

Soziologie und Heilpädagogik

Was bringt das soziologische Denken für die Pädagogik? Auf dem Hintergrund von soziologischen Theorien, Begriffen und Forschungsmethoden wird diese Frage von Scherr (2013a) so beantwortet:

Soziologie ist eine unverzichtbare Grundlage, um die sozialen Voraussetzungen der Pädagogik, die sozialen Bedingungen und Rahmungen von Erziehung und Bildung, die sozialen Einflüsse auf pädagogische Theorien und Praktiken sowie die sozialen Folgen der Pädagogik zu verstehen. Ohne soziologische Fundierung verkennt die Pädagogik grundlegende Bedingungen und Bezüge, die erhebliche Auswirkungen darauf haben, warum und wie erzogen und gebildet wird.
Die Aufgabe der Soziologie ist allerdings nicht primär, wissenschaftlich begründete Handlungsanleitungen bereit zu stellen. Zwar geht soziologisches Wissen in die erziehungswissenschaftliche Begründung von Erziehungs- und Bildungskonzepten sowie in bildungspolitische Entscheidungen ein. Soziologie ist jedoch eher eine unpraktische Disziplin, weil sie primär theoretisch fundierte Analysen und Reflexionen ermöglicht, statt Richtlinien oder gar Handlungsanweisungen für die berufliche Praxis hervorzubringen. Soziologie beansprucht also zunächst nur, zu einem besseren Verstehen der Pädagogik als situierter Praxis beizutragen. Eine Praxis, die im Zusammenhang mit den übrigen gesellschaftlichen Teilbereichen — mit Ökonomie, Politik, Recht, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, Strukturen sozialer Ungleichheit, Ideologien usw. — steht.

Dass es solche Zusammenhänge gibt und dass diese für die Pädagogik folgenreich sind, lässt sich an Beispielen verdeutlichen:

Wechselseitige Beziehung von Soziologie und (Heil)Pädagogik

Soziologische Studien haben etwa aufgezeigt, dass Pädagoglnnen sich im Umgang mit ihren jeweiligen Adressatlnnen an Normen, wie etwa an Vorstellungen über angemessenes und inakzeptables Verhalten von Kindern und Jugendlichen orientieren, die nicht fachlich begründet, sondern an gesellschaftlich gängigen Denkgewohnheiten orientiert sind. So halten es zahlreiche Pädagoglnnen für selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig, dass Kinder aus Einwandererfamilien in der Schule schlechter abschneiden als Kinder ohne Migrationshintergrund. In der Folge neigen sie dann dazu, solchen Schülern eher einen Haupt- oder Realschulbesuch als den Besuch eines Gymnasiums zu empfehlen — und dies möglicherweise in guter Absicht, aber mit problematischen Folgen: Die gute Absicht besteht darin, Kinder, von denen angenommen wird, dass sie durch ihre Eltern in schulischen Belangen kaum unterstützt werden können, nicht zu überfordern. Eine problematische Folge kann es sein, solche Schullaufbahnempfehlungen trotz eigentlich zureichender Leistungen auszusprechen, weil sie dazu beitragen, dass der Anteil von Einwandererkindern an den Gymnasien gering bleibt (nach Scherr, 2013a, S. 19).

Die Soziologie als Wissenschaft stellt den Pädagogen ein Wissen zur Verfügung, das ihnen helfen kann, die Bedingungen besser zu verstehen, in die ihr berufliches Handeln verwoben ist. Damit stellt das soziologische Denken den PädagogInnen nicht nur ein Verstehensangebot, sondern auch ein Entlastungsangebot zur Verfügung : Soziologisch informierte Praktikerlnnen haben Argumente zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, nicht alles, was in ihrer beruflichen Praxis geschieht, als Folge ihres eigenen Handelns — und ggf. als eigene Fehler — zu interpretieren. Denn Gelingen und Scheitern ist im beruflichen Handlungsfeld immer auch von den externen und internen sozialen Gegebenheiten abhängig, die durch das jeweilige eigene Handeln kaum verändert werden und deren Auswirkungen nur begrenzt beeinflusst werden können. Gleichwohl wird mit entsprechenden Analysen der sozialen Bedingungen und Grenzen von Pädagogik und Sozialarbeit Verantwortlichkeit für den kompetenten Umgang mit jeweiligen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten keineswegs hinfällig (nach Scherr, 2013a, S. 21).

Soziologisches Denken etabliert eine Reflexionsaufforderung, die als Zumutung, aber auch als Chance begriffen werden kann: Die Aufforderung, die sozialen Zusammenhänge der eigenen beruflichen Praxis bewusst in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, wie die Routinen, die Selbstverständlichkeiten, die Probleme und Schwierigkeiten der eigenen Praxis mit sozialen Strukturen und Dynamiken in Beziehung stehen. Soziologie bietet so betrachtet eine Möglichkeit zur Selbstaufklärung. Pierre Bourdieu (Bourdieu/Wacquant, 1996) hat Soziologie entsprechend als Sozioanalyse bezeichnet, als Analyse der im Alltagsdenken gewöhnlich nicht bewussten sozialen Grundlagen individuellen Erlebens, Denkens und Handelns. Weiter charakterisiert er Soziologie treffend als «nicht narzisstische Selbstanalyse», d. h. als ein Nach- und Überdenken, das seinen Fokus nicht in individuellen Befindlichkeiten, sondern in den gesellschaftsgeschichtlichen Kontexten hat: Die Soziologie ist ein . . . Instrument der Selbstanalyse, das es einem ermöglicht, besser zu verstehen, was man ist, indem sie einem ermöglicht, besser zu verstehen, wer man ist, indem sie einen die sozialen Bedingungen, die einen zu dem gemacht haben, was man ist, sowie die Stellung begreifen lässt, die man innerhalb der sozialen Welt innehat. (Bourdieu/Wacquant, 1996, S. 95f; zit nach Scherr, 2013a, S. 21)

Erklärungen für abweichendes Verhalten

Ein Flyer mit soziologischen Erklärungen zu abweichendem Verhalten wird päsentiert von jugendarbeit.ch (Peter Marti):

 

Das Bild zeigt einen Ausschnitt der als PDF verfügbaren Devianztheorien von Peter Marty.
(c) Peter Marti, jugendarbeit.ch

Link zum Originalflyer auf www.jugendarbeit.ch: http://www.jugendarbeit.ch/download/devianztheorien.pdf

Abweichendes Verhalten in der Schule

Barth, Daniel. (2009). Abweichendes Verhalten und Disziplinschwierigkeiten in der Schule als Problem der sozialen Ordnung. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 321–333.

Bild Daniel Barth.
Daniel Barth (c) quadit.ch/

Das Paper beschäftigt sich mit der Problematik der Integration verhaltensauffälliger Schüler/innen. Was die betroffenen Lehrpersonen besonders beschäftigt (neben den psychologisch-diagnostischen Aspekten) ist die soziale Problematik, welche die Verhaltensauffälligkeiten mit sich bringen. Klassengruppierungen und didaktische Settings werden durcheinandergebracht. Die soziale Problematik kann mit Hilfe der Anomietheorie aus der Soziologie verständlicher dargestellt werden. Diese Sichtweise kann zum einen eine alternative Sicht auf die Problematik ermöglichen und zum andern Handlungsansätze vorschlagen, die das abweichende Verhalten nicht nur als Störung, sondern als Bewältigungshandeln erklären.

Abstract: Es wird ein Verständnis für die Problematik, welche mit der Integration von verhaltensauffälligen Schüler/innen verbunden ist, theoretisch entwickelt. Wir führen eine Perspektive ein, die das abweichende Verhalten als individuelle Reaktion auf Spannungen im Schulsystem und in diesem soziologischen Sinne als Bewältigungshandeln versteht. Anhand von zwei Fallbeispielen werden verschiedene Umgangsformen mit anomischen Spannungen aufgezeigt und theoretisch erklärt. Es werden Vorschläge gemacht, wie anomischer Druck pädagogisch reduziert und konformes Schülerverhalten die Regel werden kann. (Barth, 2009, S. 321).

Beispiel:
Schüler A dominiert konstant die Klasse verbal (abschätzige Äusserungen, Drohen) sowie nonverbal (Blicke, Gesten, Gegenstände herumwerfen, Mitschüler stossen) und stört den Unterricht. Diese Störungen sind ununterbrochen da. Mit der Zeit äussern sich gewisse Schüler nicht mehr, aus Angst, eine herablassende Äusserung seitens dieses Schülers zu provozieren. Die Lehrpersonen reagieren auf verschiedene Weisen: direktes und indirektes, verbales und nonverbales Eingreifen, bei kleineren Vorkommnissen Ignorieren — doch nützt alles nur für den Moment, und einige Minuten später geht es genau gleich weiter. Die Lehrpersonen sind fast nur in der reagierenden Haltung und nicht in der agierenden. Der Schüler sabotiert einen grossen Teil des Unterrichts. Er zeigt fast keine Lernleistung. Die Trennung in zwei Gruppen bringt viel, doch gemeinsame Aktivitäten und Übergänge sind kräftezehrend für alle. Die anderen Schüler sind massiv in ihrem Lernprogramm behindert, und bei der Lehrperson kommt eine Unterrichtungsunlust auf, da sowieso fast jede ihrer Initiativen mit Kommentaren wie Scheisse; schon wieder; mühsam; langweilig quittiert wird (Barth, 2009, S. 322).

Download PDF: 54a_VHN_Art_publ

Die Schule als Dampfkochtopf

Barth, Daniel. (2013). Die Schule als Dampfkochtopf. Wirkungen schulischer Heilpädagogik als Beitrag zur Reduktion der Gesamtspannung im Schulsystem. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 19 (9), 41–48. Download PDF: 54b_Schule_als_Dampfkochtopf

Bild Daniel Barth.
Daniel Barth (c) quadit.ch/

Barth präsentiert ein sytemtheoretisches Modell zur Untersuchung der Wirkungen heilpädagogisch-therapeutischer Massnahmen im Kontext der Volksschule:

Das Ziel meiner Ausführungen besteht darin, die Metapher des Dampfkochtopfs Schule mit dem Überdruckventil Sonderschule auf eine sozialwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Das hierzu verwendete systemtheoretische (soziologische) Argumentarium entnehme ich einem Aufsatz von Graf (1993), der ein […] Modell für die Analyse von sozialpädagogischen Institutionen entwickelte. In Anlehnung an Graf unterscheide ich innerhalb des Gesamtsystems Schule vier Systeme der Spannungsinduktion bzw. der Spannungsgenerierung (1993, S. 158): Das System des institutionellen Auftrags, das System der strukturellen Hierarchie, das System der Lehrpersonen und das System der Schülerinnen und Schüler. Ich werde im Folgenden erläutern, wie die Entstehung von Spannung in diesen vier Systemen auf je unterschiedliche Art theoretisch erklärt werden kann und wie sich die Spannungsübertragungen […] konzeptionell fassen lassen (Barth, 2013, S. 41).

Das hier vorgestellte Modell wird anhand eines Forschungsprojektes der HfH (2103-2015) überprüft: Die von der HfH durchgeführte Studie (Laufzeit 2013-2015) untersucht die Wirksamkeit aller heilpädagogisch-therapeutischen Massnahmen, die im Rahmen der Volksschule über insgesamt vier Jahre (2005—2009) durchgeführt wurden. Durch Zusammenführen von zwei Datensätzen (SOP-Erhebung der Abt. Bildungsstatistik Zürich und Zürcher Längsschnittstichprobe des Instituts für Bildungsevaluation, Universität Zürich) wird der stundenmässige Aufwand für heilpädagogisch-therapeutische Massnahmen pro Schülerin mit deren Kompetenzniveaus in Deutsch und Mathematik sowie deren Lernmotivation verrechnet.
Auf der individuellen Ebene fragen wir nach den Wirkungen heilpädagogisch-therapeutischer Massnahmen auf Kompetenzzuwachs und Veränderungen der Lernmotivation. Auf der Ebene der Schulklassen interessiert uns, ob es Schulischer Heilpädagogik gelingt, das gruppale Leistungsniveau so zu homogenisieren, dass mehr Gerechtigkeit in Bezug auf Schulerfolg («educational equity») erreicht und Exklusion (Repetition, Sonderschulung) vermieden wird. Im Anschluss an das hier vorgestellte Modell gehen wir von der Grundthese aus, dass eine geringere Gesamtspannung im System mit mehr Gerechtigkeit und mehr Integration von Schülern mit Schulschwierigkeiten korreliert (Barth, 2013, S. 47).

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