Soziologische Modelle
60 Soziologische Konzepte und Begriffe
Soziales Handeln: Normen, Werte, Sinn
Soziales Handeln als zentraler Gegenstand der Soziologie bezeichnet den unmittelbaren Austausch mit andern Personen, aber auch die Regelhaftigkeit des Handelns über die von Gruppen, Organisationen und der Gesellschaft vorstrukturierten Beziehungsmuster (Schäfers, 2010). Die Begriffe Norm, Wert und Sinn bekommen in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung.
Die Besonderheiten des menschlichen Handelns sind bedingt durch die dem Menschen eigenen reflexiven Möglichkeiten (Selbstreflexion). Handeln ist immer eine Mischung aus konkreter Situationsbewältigung im Umgang mit den Bedingungen von aussen und aus den Überzeugungen, dem Willen und den Motiven einer Person (als Bedingungen von innen). Der Mensch ist also gezwungen, im Handeln zu strukturieren; er muss im Handeln eine bewusste Auswahl aus den Handlungsmöglichkeiten treffen, eine Selektion vornehmen (Schäfers, 2010). Diese Selektion erfolgt auf dem Hintergrund von Normen, Werten und Sinn.
Normen und Normbegriff
Soziale Normen begrenzen die Willkür in den Beziehungen der Menschen untereinander. Sie können definiert werden als explizit gemachte und institutionalisierte Verhaltensregeln, die die Handlungsmöglichkeiten bestimmen und Handlungswiederholungen und Handlungserwartungen als Standardannahmen ermöglichen. Es gibt Normen mit ganz unterschiedlichen Verbindlichkeiten und Bewusstheiten. Bei gewissen alltäglichen Routinehandlungen sind die Normen eher unverbindlich, während die gesetzlich verankerten Normen eine hohe Verbindlichkeit haben.
Sanktionen
Da Normen auch übertreten oder ignoriert werden können, gibt es Sanktionen. Sanktionen sind Reaktionen auf Verhalten mit dem Ziel, Konformität zu erreichen und die Normen zu verstärken. In der Regel meint man negative Sanktionen, die von Missbilligung bis zu Gefängnisstrafe reichen. Positive Sanktionen dagegen loben ein positives Verhalten. Sanktionen gehören zum alltäglichen Handeln und werden von jedem Individuum sowohl empfangen als auch gegenüber andern angewendet.
Soziale Rollen
Kombinationen von Normen, so genannte Normbündel, verfestigen sich zu sozialen Rollen. Der Begriff der sozialen Rolle hat zwei Bedeutungen. Einerseits sind damit die Verhaltensanforderungen gemeint, die sich aus der Verfestigung von Normen ergeben, und die die Spiel- und Handlungsfreiräume des Individuums und sozialer Gruppen bestimmen; andererseits bezeichnet man damit die Summe der Erwartungen, die «der Andere» an mein Verhalten richtet.
Soziale Rollen bestimmen zwei grundlegende soziale Phänomene: nämlich die soziale Differenzierung (wie unterscheide ich mich von den andern) und die soziale Normierung (was habe ich mit den andern gemeinsam). Dabei zeigt sich ein Dilemma des Rollenkonzepts: die personale (persönliche) Identität verlangt, dass ich so bin wie kein anderer. Die soziale Identität hingegen verlangt, dass ich möglichst so bin wie alle andern. Das Rollenkonzept ist ein unverzichtbares Analyseinstrument der Soziologie!
Von der sozialen Rolle zu unterscheiden ist die soziale Position: Es handelt sich dabei um ein komplementäres Verhältnis. Die soziale Position ist der statische Aspekt, das konkrete Rollenhandeln ist der dynamische Aspekt.
Einzelheiten zur Rollentheorie -> siehe weiter unten.
Werte und Wertbezogenheit
Die Wertbezogenheit ist wichtig für die Erklärung des sozialen Handelns. Werte sind die Grundprinzipien der Handlungsorientierung des Menschen. Sie beinhalten Vorstellungen vom Wünschenswerten und kulturelle, ethische, religiöse Leitbilder, die die Handlungssituationen steuern. Wertorientierungen bilden das Grundgerüst der Kultur. Ausserdem übernehmen Werte als Orientierungsstandards eine Entlastungsfunktion für das Individuum, das nicht in jeder Situation selber entscheiden muss. Werte sind die ethischen Imperative, die das Handeln der Menschen leiten (Schäfers, 2010).
Wertewandel
Der Wertewandel ist ein kontinuerlich stattfindender Prozess und führt zu Normkonflikten. Die geltenden Normen werden plötzlich in Frage gestellt. Dadurch wird ein sozialer Wandel angestossen (Schäfers, 2010).
Sinn
Handeln läuft —im Unterschied zum Verhalten — an Motiven und Zwecken reflektiert und zielorientiert ab (Schäfers, 2010). Der Sinnbegriff ist für die Erklärung des sozialen Handelns unverzichtbar. Die Analyse des subjektiv gemeinten Sinns macht es möglich, eine bestimmte Handlung als soziales Handeln zu verstehen.
- Der Sinnbegriff hilft, die spezifische, auf den Sinn ausgerichtete Form der Wahrnehmung, die das Verhalten anderer Menschen deutbar und verstehbar macht, zu kanalisieren.
- Der Sinnbegriff macht über die konkrete Handlungssituation hinaus die sie tragende Kultur (den Zusammenhang der Normen und Werte eines Gesellschaftssystems) einsehbar.
In diese Bestimmungen sind mehrere Annahmen und Voraussetzungen eingegangen:
- dass jedes Individuum zum «Sinnverstehen» in der Lage ist;
- dass von bereits «vergesellschafteten», d. h. mit spezifischen Normen und Werten ausgestatteten Individuen ausgegangen wird;
- dass Kultur ein zusammenhängendes, für den Menschen verstehbares und sie leitendes Normen- und Wertsystem ist;
- dass Menschen nach Sinn und den sie «leitenden» Kulturwerten suchen.
Allerdings wird im Alltagshandeln wie in der Wissenschaft zu unkritisch davon ausgegangen, dass der Handelnde immer sinnorientiert und reflexiv, also bewusst, sein Handeln steuert und zu ihm Stellung nimmt.
(Schäfers, 2010, S. 39).
Video: Niklas Luhmann über Normen und Werte
Im folgenden Videoausschnitt spricht Nikaus Luhmann über Normen und Werte.
Ohne verbindliche Regeln und Normen kann keine Gesellschaft zusammenleben. Das reicht von diskreten Gesten, wie Augen- oder Fächersprache, über ritualisierte Formen bei wichtigen Ereignissen bis hin zu den Kardinaltugenden und den zehn Geboten, die für einen grossen Teil der Menschheit seit Jahrtausenden das Fundament ihres Wertekanons bilden. Wie alle anderen Übereinkünfte auch ändern sich jedoch auch Werte. Niklas Luhmann, gestorben 1998, war Professor für Soziologie in Bielefeld (Quelle: youtube).
Rollentheorie
Die Rollentheorie beschreibt und erklärt einerseits die Rollenerwartungen und -festlegungen und andererseits, welche Spiel- und Handlungsfreiräume dem Individuum und sozialen Gruppen in einer Rolle offenstehen. Sie beschäftigt sich damit, wie gesellschaftlich vorgegebene Rollen erlernt, verinnerlicht, ausgefüllt und modifiziert werden.
Eine soziologische Sichtweise besagt, dass wir alle Theater spielen (Goffman, 2008). Jedes Individuum übernimmt in der Gesellschaft ganz verschiedene Positionen und Rollen. Eine Rolle spielt man immer in einer Bezugsgruppe. Diese Bezugsgruppe hat Erwartungen an die Rolle. Beispiel: Eine Person in der Rolle einer Lehrerin hat ganz bestimmte, dieser Rolle zugeschriebene Rechte und Pflichten und steht unter Aufsicht verschiedener Bezugsgruppen (z. B. Eltern, Kolleginnen, Schüler, Schulleitung). Diese Bezugsgruppen haben Erwartungen an das Verhalten der Lehrerin (an die Rolle) und schauen darauf, dass bestimmte Dinge getan werden, andere unterlassen. Neben normativen Erwartungen (was man tun sollte) gibt es auch die antizipatorischen Erwartungen (aufgrund des Rollenverständnis zu erwartende Verhaltensweisen).
Man unterscheidet verschiedene Typen von Erwartungen: Kann-, Soll- und Muss-Erwartungen. Die Rolle ist ein Bündel von Erwartungen, das sich auf den Inhaber einer Position richtet.
Wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, drohen Sanktionen. «Sanktionen sind die Reaktionen, die ein Rollenverhalten bei den Bezugsgruppen hervorruft» (AG Soziologie, 2004).
Erwartungen
Von den verschiedenen Bezugsgruppen werden unterschiedliche und auch sich widersprechende Erwartungen an eine Rolle herangetragen; diese einzelnen Teile der Rolle mit unterschiedlichen Erwartungen werden als Rollensegmente bezeichnet. Das Individumm ist also sowohl Konflikten durch widersprüchliche Erwartungen an seine Rolle durch verschiedene Bezugsgruppen ausgesetzt (Intrarollenkonflikte), als auch Konflikten, die dadurch entstehen, dass die Erwartungen an verschiedene Rollen einer Person sich widersprechen (Interrollenkonflikte).
Das Individuum oder das Subjekt hat in der Regel viele verschiedene Einzelrollen. Das Subjekt lebt nicht allein, sondern in einer Gruppe, z. B. in der Familie als Primärgruppe. Die Rollen und Rollensegmente werden in Gruppen, in Institutionen und Organisationen gepflegt und definiert. Hier entstehen auch die Erwartungen der Bezugsgruppen, die oft auf gesellschaftlichen Normen basieren. Durch diese Strukturen entsteht die soziale Kontrolle. Längerfristig unterliegt die soziale Kontrolle dem sozialen Wandel, d.h. die Rollen und Positionen verändern sich mit der Zeit in einem laufenden Prozess.
Symbolischer Interaktionismus
Menschliches Sozialverhalten äussert sich in Gebärden und verbalen oder nonverbalen Gesten, die als Symbole für bestimmte Bedeutungsinhalte stehen. Durch diese Symbole erhalten die Situationen des menschlichen Lebens ihre Bedeutung. Personen interpretieren die Lebenssituationen aufgrund dieser Symbole und verhalten sich entsprechend. Dieses Wissen über die Bedeutungen wird unter anderem über kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen vermittelt und so von vielen Menschen geteilt.
Was in der sozialen Wirklichkeit vor sich geht, ist davon abhängig, was die Menschen in einer Situation und über eine Situation meinen, wissen, glauben (AG Soziologie, 2004), auf dem Hintergrund von Normen und Werten. Wir befinden uns in einem ständigen Ablauf von Situationen, in denen wir aktiv handeln und entscheiden müssen.
Diese alltäglichen Vorgänge laufen weitgehend anhand signifikanter Symbole ab.
Signifikante Symbole
Handlungen werden geplant und durchgeführt anhand signifikanter Symbole. Verbale und nonverbale Gesten stellen signifikante Symbole dar, durch die eine Interaktion, also eine Wechselbeziehung zwischen Subjekten, hergestellt oder verändert werden kann. Für das Individuum bedeutet dies: man muss die Bedeutung, den subjektiv gemeinten Sinn der Handlungen der andern entschlüsseln können, um erfolgreich mit ihnen in Interaktion treten zu können (AG Soziologie, 2004). Je nach unseren Absichten und Meinungen können die Gesten und Handlungen eine andere Bedeutung haben. Die gleiche Armbewegung kann für den einen «Kratzen» bedeuten, für den andern ist sie eine Beleidigung.
Perspektiven
Die Eindrücke von Sachverhalten und Ereignissen werden selektiv und abstrahierend geordnet. Es entstehen verschiedene Blickwinkel (Perspektiven) auf eine Situation. Diese ergeben dann auch mehr oder weniger treffende Situationsdeutungen.
Perspektiven bestehen aus (AG Soziologie, 2004):
- Vorstellungen über die Eigenschaften einer Situation und die Möglichkeiten, damit umzugehen. Diese sind beeinflusst durch weltanschauliche, kulturspezifische, gruppenspezifische und Aspekte des Selbstbildes.
- Klassifikationsschemata strukturieren unser Weltbild. Sie basieren auf Werten, aber auch oft auf Vorurteilen.
- Normen sind die Erwartungen, die Bezugsgruppen an die Akteure richten.
- Ziele und Zwecke sind ebenfalls Bestandteile der Perspektive und bewirken, dass Gegenstände und Situationen anders betrachtet werden. Auf einer weniger bewussten Ebene können die Ziele auch als Motivationen bezeichnet werden (Bedürfnisse, Abneigungen, Triebe).
Rollenübernahme
Der Begriff der Rollenübernahme ist für die interaktionistische Sichtweise wichtig. Ich hege Erwartungen darüber, was die andern von mir erwarten (Erwartungs-Erwartungen). Dadurch stelle ich mir vor, wie ich an Stelle der andern handeln würde.
Interaktion
Der Begriff der Interaktionbasiert auf den Grundgedanken des symbolischen Interaktionismus nach G.H. Mead. In der Interaktion werden Beziehungen ausgedrückt, Erwartungen signalisiert und gedeutet, Regeln ausgehandelt, Werte berücksichtigt und erwartet, Symbole ausgetauscht, Konflikte analysiert und zu einer Lösung gebracht sowie Handlungskonzepte und Zukunftsperspektiven geplant und Situationen strukturiert (Bumann & Wettstein, 2014).
Rolle von Symbolen bei der Interaktion
Gesten (Gebärden oder Laute) werden zu signifikanten Symbolen, d.h. zu Gesten, die einen direkten praktischen Sinn und Nutzen haben. Sie helfen in der Kommunikation und Interaktion weiter und vereinfachen diese.
Das Handeln des Subjekts in der Gesellschaft ist immer Ausdruck seiner Beziehung zu bedeutsamen Andern:
Das für einen Menschen typische Handeln und Verhalten, so auch eine Verhaltensauffälligkeit, resultiert grösstenteils aus dem Kontakt mit anderen Menschen. Die menschliche Identität bildet sich im sozialen Umgang mit anderen, in den vielfältigen Interaktionen und Beziehungen. Dieser Umgang wird beherrscht von kulturell geprägten Symbolen wie Sprache, Schrift, Gestik, Mimik, welche eine für alle mehr oder weniger gemeinsame Bedeutung haben. Von besonderer Bedeutung ist der Symbolkomplex der Sprache (Bumann & Wettstein, 2014).
Die Interaktionisten haben auch kritische Überlegungen und Verfahrensweisen zu Problemen abweichenden Verhaltens vorgetragen (z.B. zu Kriminalität, Drogenabhängigkeit etc.) Manche von ihnen vertreten die Auffassung, Kriminalität sei eher ein Problem der Art und Weise, wie gesellschaftliche Organisationen (z.B. die Justiz) bestimmte Handlungen definieren. «Kriminell» ist nach dieser Auffassung, der so genannten Labeling-Theorie (Engl. label: Etikett), eine Handlung nicht «an sich», sondern sie wird als kriminell etikettiert, wenn sie von den Normen und Regeln der bestehenden Institutionen abweicht. (AG Soziologie, 2004, S. 66), siehe auch weiter unten zum Etikettierungsansatz.
Video: Symbolischer Interaktionismus
Mind Map: Soziale Handlungstheorien
Sozialisation, Person, Idividuum
Sozialisation
Angeborene Eigenschaften und Verhaltensabläufe legen den Menschen nur zu einem kleinen Teil fest. Es sind vielmehr die sozialen Beziehungen und Kontexte, die das konkrete Empfinden, Wahrnehmen, Erleben, Denken und Handeln des Menschen entwickeln (Scherr, 2010). Aus soziologischer Perspektive gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstrukturen und Persönlichkeitsentwicklung, der sich im Laufe der Sozialisation des Individuums manifestiert.
Die soziologische Sozialisationsforschung untersucht die gesellschaftlichen Bedingungen von Sozialisationsprozessen, aber auch die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Sozialisationsprozesse. Eine grundsätzliche soziale Handlungsorientierung und Handlungsbefähigung wird für den Menschen als angeboren angenommen. Aktive Teilnahme an sozialen Handlungs- und Kommunikationsprozessen sowie emotional bedeutsame Sozialbeziehungen sind von zentraler Bedeutung für den Sozialisationsprozess (Scherr, 2010).
Grundlegende Aspekte der Sozialisation umfassen die drei Dimensionen der Personalität, der Individualität und der Subjektivität. Der Einzelne ist durch Rollen, Normen und Werte gesellschaftlich bestimmt, aber gleichzeitig auch durch die Einzigartigkeit, die dem Individuum zugeschrieben wird, und schliesslich durch die Subjektivität, der Fähigkeit zu Sprache, Handlungs- und Selbstbestimmung (Scherr, 2010).
Man unterscheidet verschiedene Phasen der Sozialisation:
Primäre Sozialisation
Die primäre Sozialisation beinhaltet die Beziehungen zur Familie, aber auch zu Gleichaltrigen, und zielt auf die Herausbildung einer personalen Identiät des Individuums. Der liebevolle Umgang und die Zuwendung der Familie machen das Individuum handlungsfähig für weitere Sozalisationschritte.
Sekundäre Sozialisation
Die zweite Phase, die sekundäre Sozialisation, wird auch als Enkulturation bezeichnet. Nach Abschluss der primären Sozialisation findet in der Enkulturation ein Prozess der Vergesellschaftung statt. Das Kind soll in dieser Phase alle Werte, Normen, Fähigkeiten und Techniken der eigenen Kultur durch Eltern, Familie, Schule, Medien usw. erlernen. Die in dieser Phase verinnerlichten Werte und Normen gelten als relativ stabil.
Tertiäre Sozialisation
Heute wird auch von einer dritten Phase der tertiären Sozialisation gesprochen. Diese findet im Erwachsenalter statt und ist gekennzeichnet durch die ständige Anpassung des Individuums an seine Umwelt, verstanden als lebenslanger Prozess der Veränderung. Tertiäre Sozialisation ist die Bezeichnung für jene Phase der Sozialisation, in der vor allem berufliche und organisationale Einflüsse wirksam werden.
Sozialisation ist kein zeitlich und räumlich begrenztes Geschehen, sondern ist als lebenslanger Prozess zu verstehen. Sozialisation geschieht hauptsächlich ungeplant und unbeabsichtigt. Alle sozialen Situationen bilden struktruriertes Erfahrungsmaterial, das den Beteiligten nicht umfassend bewusst ist. Für die Beteiligten erfolgt eine «selektive und eigensinnige individuelle Aneigung dieses Erfahrungsmaterials» (Scherr, 2010).
Erziehung kann im Gegensatz zur erwähnten «automatisch» ablaufenden als geplante und absichtsvolle Sozialisation angesehen werden. Erziehung erreicht aber oft die angestrebten Ziele nicht oder nur teilweise. Befunde aus der Sozialforschung begründen diese Grenzen der Erziehung (Scherr, 2010):
- Bewusste und gezielte Erziehungshandlungen sind gegenüber den unbeabsichtigt und ständig ablaufenden Sozialisationsvorgängen in der Minderzahl. D.h. die ständig präsenten Sozialisationsvorgänge haben eine grössere Bedeutung.
- Selbstsozialisation in Gleichaltrigengruppen ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung, wie aus Beobachtungen geschlossen werden muss (Scherr, 2010). Kinder und Jugendliche «orientieren sich demnach nicht zentral an den eigenen Eltern bzw. an Erwachsenen, sondern an denjenigen, mit denen sie sich als Alters- und Geschlechtsgleiche identifizieren können» (Scherr, 2010).
- Erziehung kann daran scheitern, dass sie als Versuch absichtsvoller Beeinflussung erkannt und abgelehnt wird. «Kinder, Jugendliche und Erwachsene können die Erwartung, sich erziehen zu lassen, als solche zurückweisen».
Diese Phänomene zeigen eine grundlegende Problematik für die pädagogischen Berufe auf:
Erziehung ist nicht nur durch bewusste Erziehungshandlungen zu errreichen, sondern vor allem durch eine angemessene Gestaltung des gesamten Sozialisationskontextes in pädagogischen Einrichtungen (Scherr, 2010).
Gesellschaftlichkeit und Individualität
Für die Soziologie hat das Thema der Sozialisation dreifache Bedeutung (Scherr, 2010):
- Erstens impliziert sie die Frage nach den Bedingungen einer Sozialisation, die die Individuen zur Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen und Anforderungen befähigt bzw. motiviert; sie hängt insofern eng mit der Thematik Normalität und Abweichung zusammen.
- Zweitens ermöglicht sie die Frage nach einer solchen Gestaltung gesellschaftlicher Lebensbedingungen, die der Entwicklung und Realisierung menschlicher Fähigkeiten zu eigenverantwortlichem, rational begründetem, sozial kooperativem und moralisch rechtfertigbarem Handeln förderlich ist.
- Drittens unterscheiden sich soziologische Theorien erheblich in ihrer jeweiligen Einschätzung der Stärke und Schwäche gesellschaftlicher Einflussnahmen auf die individuelle Entwicklung, also darin, ob sie eher die soziale Bestimmtheit oder die individuelle Selbstbestimmungsfähigkeit betonen.
Sozialisation als komplexer Prozess:
- Menschen sind einzigartige Individuen, die sich in ihrem Empfinden, Denken und Handeln unterscheiden. Dies gilt auch für Individuen, die unter weitgehend ähnlichen sozialen Bedingungen aufgewachsen sind und leben.
- Es gibt aber Situationen, in denen die Besonderheiten des Einzelnen hinter sozial festgelegte Modelle zurücktreten. Solche Bündel von Erwartungen werden als soziale Rollen bezeichnet (siehe dort). Sozialisation beinhaltet das Erlernen solcher Rollen und auch von Rollendistanz, und den taktischen oder spielerischen Umgang mit Rollenerwartungen.
- Individuen sind Mitglieder sozialer Bezugsgruppen und Organisationen z.B. der Wir-Gruppe (Familie, Verwandtschaft, Freunde, Cliquen) oder von Organisationen (Kirchen, Parteien, Vereine, Wirtschaftsbetriebe etc.). Die Mitglieder besitzen gemeinsame Merkmale, die sie von den Mitgliedern anderer Gruppen und Organisationen unterscheiden.
- Grundlegende Gemeinsamkeiten aller Menschen sind Sprachfähigkeit und Selbstbewusstseinsfähigkeit (Reflexivität), die durch angeborene Merkmale und Dispositionen nur wenig festgelegt sind.
Primat des Sozialen gemäss George H. Mead (Vorrang des Sozialen, Selbstbild und Identität, Scherr, 2010, S. 55)
Grundlagentheoretisch ist im Anschluss an George H. Mead (1863—1931) von einem Primat des Sozialen auszugehen: Menschen treten mit ihrer Geburt nicht als sprach- und handlungsfähige Individuen mit bereits ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen, Bedürfnissen und Interessen in soziale Zusammenhänge ein, sondern als durch ihre biologische Ausstattung nur wenig festgelegte Wesen. Sie können sich nur durch die Teilnahme an sozialen Zusammenhängen, durch die Interaktion mit bedeutsamen Anderen (significant others) im Prozess der primären Sozialisation zu eigenständig sprach- und handlungsfähigen Subjekten heranbilden und zugleich eine sie von anderen unterscheidende Individualität entwickeln (Scherr, 2010).
Soziale Bedingungen vs. individuelle Eigenleistung
Sozialisation: Soziale Bedingungen vs. individuelle Eigenleistung
Veraltete Denkmodelle sehen in der Sozialisation vor allem eine soziale Prägung, also eine einseitige Beeinflussung und Lenkung des Individuums durch Gesellschaft, Kultur und Erziehung. Individualität und Subjektivität werden in dieser Sichtweise vernachlässigt. Diese Sichtweise ist vor allem häufig, wenn auffällige Verhaltensweisen erklärt werden sollen. Wichtig sind demgegenüber Handlungsmodelle, die die komplexen Zusammenhänge von sozialen Bedingungen und individueller Eigenständigkeit beschreiben und empirisch erforschen (Scherr, 2010).
Auch ein anderes überliefertes Denkmodell hat sich als falsch erwiesen: die Annahme einer primären Asozialität des Menschen mit der Vorstellung, aufgrund der egoistischen und asozialen Natur des Menschen sei es notwendig, diese primäre Asozialität durch soziale Normen und Zwänge einzuschränken (Scherr, 2010). Demgegenüber betont Scherr (2010) als grundlegende Kompetenz des Menschen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Kooperation.
Sozialisation als Aneigung sozial geteilter Wirklichkeit
Luhmann hat die These vertreten, Sozialisation sei Selbst-Sozialisation, und damit postuliert, dass sich die soziale Interaktion und Kommunikation nicht direkt auf die psychischen Prozesse des Einzelnen auswirken, sondern dass das Individuum aktiv die erhaltene Information verarbeitet. Heranwachsende nehmen an der alltäglichen Lebenswelt ihrer sozialen Gruppe teil und eignen sich damit deren Weltsicht an. Dieser Sozialisationsprozess bewirkt den Erwerb grundlegender sozial geteilter Wahrnehmungs-, Deutungs-, Handlungs- und Bewertungsmuster. Bourdieu vergleicht diese Muster mit der Grammatik einer Sprache (Scherr, 2010).
Bedingungen gelingender Sozialisation: Soziale Anerkennung und Sprach- und Handlungsfähigkeit
Sozialisationsbedingungen und -verläufe können zu Störungen der individuellen Entwicklung führen, die sich z. B. in problematischem Kommunikationsverhalten, psychischen Erkrankungen oder Suchtkarrieren manifestieren (Scherr, 2010). Für die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls sowie rationaler und moralisch verantwortlicher Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sind folgende Bedingungen wichtig:
- Die Individualität und die eigenverantwortliche Handlungsfähigkeit bilden sich in Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung. Diese wechselseitige Anerkennung wird im Umgang mit Kleinkindern quasi im Vorgriff auf ihre erst noch zu entwickelnde Fähigkeit erbracht.
- Familiäre oder familienähnliche Beziehungen sind für die frühkindliche Sozialisation bedeutsam. Sie sind gekennzeichnet durch hohe Interaktionsdichte, Konstanz der Bezugspersonen sowie verlässliches Verhalten dieser Bezugspersonen (Scherr, 2010).
Grundsätzlich ist die Sprache das wichtigste Organisationsprinzip der Sozialisation.
Grundannahmen zur Sprachentwicklung aus der sozialwissenschaftlichen Sozialisationsforschung (Scherr, 2010):
- In der Interaktion werden Kinder von Anfang an, also schon bevor sie die Bedeutung von Wörtern und Sätzen tatsächlich verstehen, von ihren primären Bezugspersonen als Wesen behandelt, die zu sprachlicher Verständigung grundsätzlich in der Lage sind. Gemeinsame Handlungen mit dem Kind werden sprachlich kommentiert und die elementaren Laute und Gesten des Kindes werden als verstehbare Äusserungen behandelt.
- Indem die primären Bezugspersonen in der Interaktion mit dem Kind über ihr eigenes Erleben und Handeln, das Empfinden und Handeln des Kindes sowie Objekte sprechen, werden dem Kind erste sprachliche Deutungen und Beschreibungen seiner elementaren Wahrnehmungen und Erlebnisse angeboten. Dadurch wird das Kind allmählich befähigt, Ereignisse, Personen und Dinge mit sprachlichen Äusserungen zu verbinden.
- Bezugspersonen reagieren auf die Gesten und lautsprachlichen Äusserungen eines Kleinkindes so, als ob es sich bereits um intentionale und verständliche Mitteilungen handelte. Damit werden Kindern sprachliche Ausdrucksformen und Interpretationen ihrer eigenen Wahrnehmungen, Handlungen und Empfindungen angeboten, die sie erlernen und verwenden können. Indem sich Bezugspersonen mit Kindern auf die Bedeutung elementarer Äusserungen einigen, können zunächst recht einfache sprachliche Kommunikationsmuster aufgebaut werden, die im weiteren Verlauf zu komplexeren Sprachäusserungen weiterentwickelt werden.
- Die primären Bezugspersonen wirken, ohne dass dies notwendigerweise absichtsvoll geschieht, auf die Verfestigung und den Ausbau der sprachlichen Fähigkeiten des Kindes hin, indem sie sprachliche Äusserungen aufgreifen, also etwa aus kindlichen Lauten Wörter formen, sprachlich korrekte Äusserungen wiederholen oder unvollständige Sätze vervollständigen.
Die Bedeutung von Sprache für den Sozialisationsprozess und für das soziale Zusammenleben insgesamt lässt sich nicht angemessen begreifen, wenn Sprache als ein blosses Mittel der Verständigung über vorsprachliche Absichten, Bedürfnisse oder Interessen gedacht wird. Denn Sprachen sind, wie in den sprachphilosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins (1889—1951) deutlich wurde, kein neutrales Instrument, über das Individuen zum Zweck der Mitteilung und Verständigung verfügen können. Vielmehr enthalten Sprachen die grundlegenden Muster der Wahrnehmung, Deutung und Bewertung, innerhalb derer Individuen sich selbst sowie ihre soziale und natürliche Umwelt erleben. Unterschiede der Sprachen, die in sozialen Gruppen gesprochen und erlernt werden, bedingen folglich auch Differenzen des jeweiligen Selbst- und Weltverständnisses (Scherr, 2010, S. 63).
Identität und Habitus
Identität und Habitus bezeichnen Verhaltensdispositionen, die Menschen im Verlauf ihres Lebens entwickeln. Individuen statten sich selbst mit bestimmten Merkmalen aus und ordnen sich damit bestimmten sozialen Gruppen zu. Gleichzeitig werden sie aber auch von den Andern aufgrund dieser Merkmale bestimmten Gruppen zugeordnet und sozial typisiert (Liebsch, 2010). Identität und Habitus verbinden die mikrosoziologische Ebene des Handelns von Individuen mit der makrosoziologischen Ebene der gesellschaftlichen Strukturen.
Definition Identität
Identität ist ein Konzept zum Verständnis von Selbstbildern. Mit Hilfe des Identitätskonzepts werden sich ständig wandelnde Antworten auf die Frage «Wer bin ich?» gegeben. Identitäten werden in einem Wechselspiel von bestehenden sozialen Strukturen und verändernder Aneignung gebildet. Sie transportieren sowohl Reaktionen auf Vorgegebenes wie auch selbstgestaltete Definitionen. (Liebsch, 2010)
Der Habitus ist als eine Art sozialer Grammatik in die Körper und Verhaltensweisen der einzelnen Individuen eingeschrieben. Der Habitus als eine Institutionalisierung und Habitualisierung des Verhaltens bringt für das Individuum Entlastung, weil nicht jede einzelne Handlung detailliert geplant werden muss. Habitus ist nicht eine Eigenschaft des Individuums, sondern eine Struktur des Handelns.
Definition Habitus
Der Habitus bezeichnet zum einen die habitualisierten Gewohnheiten und Handlungen von Personen. Zum anderen wird mit Habitus auch ein sozialisatorisch erworbenes Schema zur Erzeugung immer neuer Handlungen bezeichnet, das Grenzen und Spielräume sozialer Ordnungen reproduziert und verändert. Als dialektischer Begriff bezeichnet der Habitus immer beides: das bereits Strukturiert-Sein und die strukturierende Funktion der Handlungen von Individuen, die gesellschaftliche Prägung und die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten (Liebsch, 2010).
Abweichendes Verhalten
Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle
Abweichendes Verhalten, in diesem Kontext auch als Devianz bezeichnet, ist Verhalten, das gegen die gesamtgesellschaftlichen Normen, Regeln und Werte verstösst. Wo es Regeln gibt, gibt es aber auch Abweichungen (Peuckert, 2010). Abweichendes Verhalten ist ein Bestandteil der gesellschaftlichen Organisation (bei Durkheim als «Normalität des Verbrechens» bezeichnet), in diesem Sinne allgegenwärtig und unvermeidbar.
Die soziale Kontrolle soll garantieren, dass Menschen sich konform verhalten, z. B. durch Prozesse der sozialen Integration. Die Person, die abweichendes Verhalten zeigt, soll bestraft, behandelt oder gebessert werden.
Abweichendes Verhalten kann sowohl funktional wirken (d.h. systemerhaltend, förderlich), als auch dysfunktional (schädlich). Die dysfunktionalen Wirkungen sind unmittelbar einleuchtend: Das abweichende Verhalten (z. B. Kriminalität) schädigt sowohl Täter und Opfer als auch die Gesellschaft und verursacht hohe Kosten.Wird ein gewisses Ausmass an Devianz überschritten, wird das Gerechtigkeitsempfinden verletzt und die Regeln werden in Frage gestellt (Peuckert, 2010).
Der funktionale Beitrag abweichenden Verhaltens kann wichtig sein für die Lebensfähigkeit eines sozialen Systems. Gemäss Durkheim ist Kriminalität notwendig, nützlich und ein integratives Element in jeder gesunden Gesellschaft (Durkheim, 2007). Das Positive erhält erst durch die Existenz des Negativen Sinn, der Inhalt der Moral, d.h. was erlaubt ist, wird teilweise dadurch definiert, was nicht erlaubt ist (Peuckert, 2010).
Soziale Kontrolle und Sanktionen sind deshalb notwendig. Sanktionen tragen dazu bei, den genauen Inhalt der Normen und die Grenzen ihres Geltungsbereichs deutlich zu machen.
Erklärungen abweichenden Verhaltens
Ätiologisches Paradigma: Anomietheorie
Das ätiologische Paradigma oder die Ursachentheorie ist einer von zwei wichtigen Erklärungsansätzen für abweichendes Verhalten; der zweite Ansatz ist die interaktionistische Devianzperspektive (Peuckert, 2010).
Das ätiologische Paradigma
Der ätiologische Ansatz zielt auf Prävention, Behandlung, Korrektur und soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens. Abweichler werden als behandlungsbedürftig angesehen. Unerwünschte Verhaltensweisen sollen vermieden oder abgebaut werden. Gemäss ätiologischem Ansatz besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Abweichlern und Konformen. Es gilt, die Faktoren aufzudecken, die abweichende Personen physisch, psychisch oder sozial von konformen unterscheiden. Diese können dann als Ursachen der Abweichung bezeichnet werden (Peuckert, 2010).
Die Anomietheorie
ist eine sozialstrukturelle Kriminalitätstheorie und ein Beispiel für den ätiologischen Ansatz. Robert K. Merton formulierte die Theorie zuerst 1938 und überarbeitete sie 1957.
Das Auftreten von Devianz ist ein Ausdruck von Anomie (d.h. Norm- oder Regellosigkeit), die als Folge übersteigerter Erwartungshaltungen in der Bevölkerung auftritt. Merton setzt voraus, dass es einerseits kulturelle Ziele als Wünsche und Erwartungen der Menschen einer Gesellschaft gibt (z. B. Bildung, Wohlstand, hohes Ansehen), und dass es andererseits Normen gibt, welche die Mittel vorschreiben, die die Menschen zur Realisierung dieser Ziele anwenden dürfen (z. B. Fleiss, Intelligenz, Lernfreude). Als Anomie wird dann ein Ziel-Mittel-Konflikt bezeichnet, hervorgerufen durch gesellschaftliche Bedingungen wie fehlende Chancengleichkeit.
Abweichendes Verhalten kann in dieser Sicht als Symptom für das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und sozial strukturierten Wegen, auf denen diese Ziele zu erreichen sind, betrachtet werden (Merton, 1979). Deshalb liegt der stärkste Druck auf den unteren Sozialschichten. D.h. in dieser Sichtweise ist Kriminalität eine normale Reaktion benachteiligter Individuen (Peuckert, 2010).
Devianz
Devianz ist eine mögliche Reaktionsweise auf Anomie. Merton beschreibt fünf verschiedene mögliche Arten individueller Anpassung, die von Myschker (2005, S. 112) mit Bezug auf schulische Anpassungstypen so beschrieben werden:
- Konformität meint die Situation, in der der Schüler versucht, seine Defizite durch Hilfe von aussen (z.B. Nachhilfeunterricht) auszugleichen oder diese Defizite zu akzeptieren und sich, z.B. durch Überweisung auf eine Sonderschule für Lernbehinderte, auf einen unteren Leistungslevel einzustellen.
- Als deviante Innovation lässt es sich bezeichnen, wenn zur Erreichung der vorgeschriebenen Leistungen illegitime Mittel benutzt werden, wenn z.B. beim Klassenkameraden abgeschrieben wird.
- Ritualismus oder Opportunismus ist eine Form der Scheinanpassung, d.h., der Schüler verhält sich «im Hinblick auf die geltenden Normen konform, obwohl er ein indifferentes oder auch ablehnendes Verhältnis zu den entsprechenden Zielen hat» (Wurr/Trabandt, 1980, S. 26).
- Rebellion ist das Setzen und Durchsetzen eigener Ziele durch Stören des Unterrichts, um von eigenen Defiziten abzulenken und Zuwendung oder sogar Anerkennung zu erfahren.
- Als Apathie lassen sich ein innerer oder auch äusserer Rückzug, wie Schweigen und Sich-Verweigern im Unterricht, oder auch Schuleschwänzen bezeichnen.
Umgangsformen mit anomischen Spannungen
Barth (2009, S. 326) beschreibt die Umgangsformen mit anomischen Spannungen am Beispiel der Schule.
Arten der Anpassung
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Institutionelle Mittel: individuelle Lernleistung
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Kulturelle Ziele: Schulerfolg, Bildungschancen
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1. Konformität: Fleiss
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+
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+
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2. Innovation (Neuerung): spicken, krank sein bei Prüfungen
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–
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+
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3. Ritualismus: hinschmieren, Pflichterfüllung ohne Interesse
|
+
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–
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4. Apathie (Rückzug): Absentismus (schwänzen, träumen), hohe Besetzung der Freizeit
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–
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–
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5. Rebellion: Disziplinarische Probleme im Unterricht (Veränderung der Norm wird angestrebt)
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+/-
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+/-
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Die Umgangsformen mit anomischen Spannungen werden bezogen auf die Schule und ein Fallbeispiel ausführlich besprochen. Im letzten Abschnitt werden ausserdem die praktischen handlungstheoretischen Konsequenzen erläutert, welche sich aus der anomietheoretischen Erklärung abweichenden Verhaltens ableiten lassen (Barth, 2009, S. 329).
(Quelle: Barth, Daniel. (2009). Abweichendes Verhalten und Disziplinschwierigkeiten in der Schule als Problem der sozialen Ordnung. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 321–333.)
Interaktionistische Devianzperspektive
Die zweite Erklärungsmöglichkeit abweichenden Verhaltens, neben dem bereits besprochenen ätiologischen Ansatz, ist die interaktionistische Devianzperspektive, auch als Etikettierungsansatz bekannt (labeling approach). Abweichendes Verhalten oder Devianz wird in dieser Perspektive als eine sich fortlaufend entwickelnde Folge dynamischer Interaktionsprozesse aufgefasst (Peuckert, 2010).
Das folgende Beispiel gibt den Entwicklungsprozess delinquenten bzw. kriminellen Verhaltens im Sinn der interaktionistischen Devianzperspektive in acht Phasen wieder. Damit soll verdeutlicht werden, dass Kriminalität nicht eine spezielle Qualität eines Menschen, sondern das Ergebnis eines Prozesses ist, in dem einseitige Situationsdefinitionen und spezielle Umstände negative Typisierungen und Sanktionen mit entsprechenden Reaktionen hervorbringen, wie im Folgenden gezeigt wird (Quensel, 1970; zit. nach Myschker, 2005; S. 112):
- Phase: Ein Jugendlicher begeht ein kleines Delikt zur Lösung eines kleinen Problems (Elternkonflikt — Diebstahl).
- Phase: Der Jugendliche hat kein Glück: Es kommt zu keiner Problemlösung, vielmehr zu einer Bestrafung.
- Phase: Das Problem wird grösser. Die Ablehnung der Umwelt wächst. Der Jugendliche sucht nach Selbstbestätigung bei gleich gesinnten Jugendlichen. Er lehnt die Bestrafung als «Ungerechtigkeit» ab.
- Phase: Ein weiteres Delikt wird als «Rückfall» interpretiert und bringt die Gefahr eines Aufschaukelprozesses: Das delinquente Verhalten und die Bestrafungen verstärken sich gegenseitig.
- Phase: Der Jugendliche wird als Delinquent definiert. Er wird aktenkundig und behandlungsbedürftig (Jugendarrest, Heim). Er übernimmt die Definition Delinquenter in sein Selbstbild: Die Schwelle zum Verbotenen wird niedriger, die ungelöste Problematik wird grösser.
- Phase: Der Jugendliche wird zum Aussenseiter. Techniken delinquenter Problembewältigung verfestigen sich, werden zur Typisierung im Sinne «schädlicher Neigungen» (der aggressive Schläger, der Wegläufer, der Manipulator, der Rocker, der Süchtige). Mit der Übernahme der delinquenten Rolle zeichnet sich eine delinquente Karriere ab.
- Phase: Der Jugendliche kommt in die Strafanstalt. Mit der nunmehr eindeutigen Rollenfestlegung ist eine deutliche Problemverstärkung verbunden.
- Phase: Nach der Entlassung ist der Jugendliche ein Vorbestrafter. Verwiesen auf das Milieu Gleichartiger, ist für den Jugendlichen ein Rückfall naheliegend. Der Rückfall führt zu härterer Bestrafung. Es kommt zu einem Teufelskreis, zu einem sich wechselseitig hochschaukelnden Interaktionsprozess zwischen dem Jugendlichen und seiner sozialen Umwelt unter Einschluss der staatlichen Sanktionsinstanz.
Mit der interaktionistischen Devianzperspektive kann eine sich steigernde negative Entwicklung aufgezeigt werden, für die Verursachung dieser Entwicklung hält sie jedoch keine Erklärungen bereit.
Etikettierungsansatz und Stigma-Theorie
Der Etikettierungsansatz (labeling approach) ist eine soziologische Denkrichtung und entspricht weitgehend der bereits beschriebenen interaktionistischen Devianzperspektive. Abweichendes Verhalten wird als sozial zugeschrieben erklärt, und nicht als objektiv vorhanden. Der Etikettierungsansatz kann im Zusammenhang gesehen werden mit der so genannten «Sündenbocktheorie», nach der eine Gesellschaft Abweichler braucht, weil deren Bestrafung als Gratifikation für eigenes Wohlverhalten erlebt werden kann und sozialkonformes Verhalten stabilisiert.
Eine Sündenbock-Rolle spielen im Schulsystem z. B. Schüler mit Lern- und Verhaltensstörungen. Sie werden selektiert und in Sondereinrichtungen umgeschult. Die für sie eingeleiteten Massnahmen können für die übrigen Schüler einerseits als Gratifikation für erwartungsgemässes Lern- und Sozialverhalten, andererseits aber auch als Abschreckung dienen. Auf diesem Hintergrund funktionieren Drohungen von Lehrern und Eltern gegen Schüler, etwa in der Art: «Wenn du dich nicht anstrengst, kommst du auf die Hilfs-, Lernbehinderten-, Doofen-Schule!». Sondereinrichtungen wirken insofern systemstabilisierend, ziehen potenziell Etikettierung, Stigmatisierung und Selbststigmatisierung nach sich und stimulieren durch ihre blosse Existenz Bedrohung und Bedarf (Myschker, 2005, S. 113).
Der Etikettierungsansatz geht zurück auf den symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead, nach dem «das Individuum im Laufe seiner Erfahrungen mit sozialen Symbolen ein Selbstverständnis erwirbt, das wesentlich durch die Interpretation beeinflusst wird, die dieses Individuum anderen in Bezug auf sich selbst zuschreibt.» (Myschker, 2005).
Zur Erklärung abweichender und störender Verhaltensweisen nach dem Ansatz des labeling approach können Etikettierungs-, Stigmatisierungs– und Selbststigmatisierungsprozesse herangezogen werden.
Stigma und Stigmatisierung
Das Stigma bezeichnet eine Abweichung von der Norm, welche innerhalb einer Gesellschaft gegeben bzw. erwünscht ist. Die Betroffenen erreichen aufgrund der Stigmatisierung nicht den Status eines normalen Mitglieds der Gesellschaft. Insbesondere leiden Menschen von Minderheiten unter der Stigmatisierung und deren Auswirkungen, die in der Schwierigkeit der eigenen Identitätausbildung und in der Akzeptanz durch sie selbst und durch Aussenstehende liegt.
Erwartungsverletzung als Kern der Stigma-Theorie
Ein Stigma ist eine unerwünschte Andersheit gegenüber dem, was gemäss Normen erwartet würde. Es ist also eine Erwartungsverletzung durch die Enttäuschung von Verhaltenserwartungen.
Ein Stigma ist eine Verallgemeinerung einer spezifischen Handlung oder Eigenheit einer Person auf deren Gesamtcharakter. Das Stigma wird zu einer hervorstechenden Eigenschaft einer Person.
Erving Goffman [1] betrachtet Stigma als Beispiel für die Kluft zwischen dem, was eine Person sein sollte (ihrer virtuellen sozialen Identität), und ihrer wirklichen sozialen Identität, d. h. dem, was sie wirklich ist.
[1] Erving Goffman (1922- 1982) war ein US-amerikanischer Soziologe.
Gruppe – Institution – Macht
Die soziale Gruppe
Die soziale Gruppe gilt als Paradigma der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung des Menschen. Der Mensch ist von seiner Anlage und Organausstattung her ein Gruppenwesen und lebte in seiner Entwicklungsgeschichte den grössten Teil der Zeit in Horden oder Klans. Jedes Individuum gehört in der Regel verschiedenen sozialen Gruppen an. Die Gruppe verbindet das Individuum mit der Gesellschaft, die Individualnatur des Menschen mit der Sozialnatur (Schäfers, 2010).
Als Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen enstanden und entstehen immer neue Gruppen, so z. B.:
- Die gang als «Rotte» der Kinder und Jugendlichen, als Ersatz für das «broken home».
- Die informellen Gruppen in formalen Organisationen, die eine wichtige Bedeutung für Individuum und Organisation haben.
- Die peers, Gleichaltrigengruppen von Kindern und Jugendlichen als Zwischenglied zwischen Familie und Gesellschaft.
- Die diversen Gruppen im Bereich der Selbsthilfe, der politischen und sozialen Identitätsfindung und Selbstbehauptung, und die Alternativgruppen in verschiedenen Lebensbereichen.
Neue Gruppenbildungen werden zu Zufluchtsorten des Individuums als Möglichkeit, den gesellschaftlichen Zwängen zu entgehen oder ihnen standzuhalten (Schäfers, 2010).
Definition der Gruppe
Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Zahl von Mitgliedern, die zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels über längere Zeit in einem kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über eine gruppenspezifische Rollendifferenzierung erforderlich (Schäfers, 2010).
Die Primärgruppe
Die Primärgruppe erhält ihren Namen dadurch, dass sie zeitlich und inhaltlich die erste an der Formation der Sozialnatur des Menschen beteiligte Gruppe ist (Schäfers, 2010). Die soziale Persönlichkeit des Individuums wird weitgehend durch die Primärgruppen Familie, Spielgruppe und Nachbarschaft geformt. Die Menschen gehören der Primärguppe als Individuen an, nicht als Funktions- oder Rollenträger!
Die Familie
als Sonderform der Kleingruppe kann als die Urform des Gruppenlebens angesehen werden. Sie ist in ihren Zwecken weitgehend vorstrukturiert. Alter, Geschlecht und Generationenabstand sind in der Regel konstitutive Mermale der Familie, ebenso die Strukturen der Autorität, der Kompetenz- und Anordnungsbefugnisse. Die Familie befindet sich aufgrund des Familienzyklus in einer dauernden Veränderung, die das Normen- und Wertgefüge betrifft, aber auch die interne Rollendifferenzierung.
Institution und Organisation
Theorie der Institution
«Unter Institution versteht man im soziologischen Kontext eine Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert.» (Gukenbiehl, 2010)
Institutionen
Institutionen in diesem Sinn sind die vielfältigen Formen geregelten Zusammenwirkens bei der Kommunikation (z. B. Begrüssung, Diskussion, Unterricht), bei der Arbeit und im Handel (z. B. Betrieb, Tausch, Kauf), bei der Nutzung und Verwaltung (z. B. Wohngemeinschaft, Gemeinde), bei der Pflege und Erziehung (z. B. Altersheim, Kindergarten, Schule), bei Spiel, Festen und Feiern (z. B. Fussballspiel, Kirchweih, Gottesdienst, Eheschliessung), aber auch bei geregelten Auseinandersetzungen (z. B. Gericht, Zweikampf) und schliesslich die umfassenden Formen gemeinsamen Lebens wie in Familie, Kloster oder Staat. Diese Formen geregelten Zusammenwirkens verändern sich mit der Zeit, neue Formen treten auf (z. B. Gewerkschaften), oder ältere verlieren ihre Bedeutung (z. B. Zünfte) (Gukenbiehl, 2010).
Funktionen von Institutionen
Institutionen schaffen durch ihre verbindlichen Regelungen eine gewisse Sicherheit und Stabilität, sie tragen zu einer sozialen und kulturellen Identität bei und fördern die soziale Integration. Sie begrenzen zwar die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen, bringen aber eine Entlastung, indem nicht für jeden Einzelfall Entscheidungen getroffen und Rechtfertigungen gesucht werden müssen.
Die Organisation
Die Organisationstheorie ist neueren Datums, knüpft aber in mancher Beziehung an die Institutionstheorie an. Organisationen sind Formen geregelter Kooperation, die sich weniger auf dem Hintergrund traditionaler Gesellschaften entwickelt haben, sondern auf dem Boden der Rationalität (Gukenbiehl, 2010). Das Organisieren als Form des Denkens und Handelns bringt die Organisation als soziales Gebilde hervor. Zu den Organisationen gehören Banken, Gemeindeverwaltungen, Kirchen, Schulen, Fernsehanstalten, Gesang- und Sportvereine.
Ziele und Strukturen
Organisationen sind Instrumente zur Erreichung spezifischer Ziele, die durch das geregelte Zusammenwirken von Menschen und die Nutzung von Mitteln erreicht werden sollen. Dafür sind meistens längerfristige und dauerhafte Kooperationen erforderlich. Schulen erziehen und unterrichten immer wieder andere Schüler, Krankenhäuser pflegen immer wieder andere Patienten. Das Regelwerk der Organisation soll garantieren, dass die Ziele durch die dauerhafte Kooperation erreicht werden.
Macht, Herrschaft, Gewalt
Die Untersuchung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist ein zentraler Gegenstand soziologischer Analysen.
Unter Macht wird « die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen (Weber, 1922)» oder auch «das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen (Popitz, 1992)» verstanden (Scherr, 2013b).
Herrschaft ist eine spezifische Form von Macht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Einverständnis herbeigeführt werden kann, dass «ein Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam» findet (Weber, 1922, zit. nach Scherr, 2013b). Herrschaft kann als Spezialfall von Macht, als institutionalisierte Macht bezeichnet werden (Imbusch, 2010).
Gemäss Luhmann (988, zit. nach Scherr, 2013b) besteht Macht «in der Neutralisierung des Willens, nicht unbedingt in der Brechung des Willens der Machtunterworfenen». Machtverhältnisse können also dazu dienen, die Absichten und Interessen der Unterlegenen zu ignorieren.
Es gibt sehr verschiedene Formen der Machtausübung, so z. B. das Zufügen körperlicher Verletzungen,die Begrenzung des Zugangs zu wesentlichen Lebensmitteln, die Einschränkung sozialer Teilhabemöglichkeiten, die Zuweisung von Belohnungen oder Bestrafungen, die Beeinflussung von Wahrnehmungen, Wissen und Überzeugungen, die selektive Gewährung von Anerkennung.
Machtausübung wird vor allem durch die Tatsache ermöglicht, dass Individuen auf soziale Teilhabe und auf den Zugang zu gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen angwiesen sind, und dass Individuen physisch und psychisch verletzbar sind (Scherr, 2013b).
Machtbildungsprozesse beginnen z. B. damit, dass jemand ein Privileg definiert und wahrnimmt, oder dass jemand sich gesellschaftliche Ressourcen aneignen kann, die eine gewisse Überlegenheit verbürgen (Imbusch, 2010).
Auch pädagogische Beziehungen beinhalten immer einen Macht- und Herrschaftsaspekt (Scherr, 2013b). Eltern und Pädagogen müssen Entscheidungen treffen und Regeln durchsetzen, mit denen die Adressaten nicht immer einverstanden sind. Im Hintergrund steht der gesellschaftliche Auftrag, Lern- und Entwicklungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen auch dann anzustossen, wenn sie diese Notwendigkeit noch nicht einsehen.
Diese Behauptung steht im Widerspruch zum Selbstverständnis moderner Pädagogik. Obschon die Prügelstrafe abgeschafft und als abweichendes Verhalten verpönt ist, kann nicht darüber hinweg gesehen werden, dass in Pädagogik und Sozialarbeit mehr oder weniger offenkundige Machtmittel gegenüber Kindern und Jugendlichen verwendet werden (müssen) (Scherr, 2013b). Gelingt es nicht, sich über vorliegende Probleme und akzeptable Problemlösungen zu verständigen, kommen Machtmittel zum Einsatz, die institutionell, durch rechtliche und organisatorische Festlegungen und Sanktionsbefugnisse abgesichert sind.
Gewalt im engeren Sinne des Begriffs, also das Androhen oder Zufügen von physischen Verletzungen ist eine mögliche Grundlage von Macht- und Herrschaftsausübung durch Zwangsmittel. Im Alltagsleben geht man davon aus, dass durchschnittlich sozialisierte Individuen grössere Hemmungen gegenüber der Anwendung von Gewalt aufgebaut haben. Gewalt wird deshalb nicht als Bestandteil des alltäglichen Handlungsrepertoires betrachtet.
Gewaltanwendung wird mit Sanktionen geahndet und ist deshalb nicht geeignet, informelle Machtbeziehungen auf Dauer abzusichern. «Die rechtlich nicht regulierte Anwendung von physischer Gewalt kann folglich innerhalb der modernen Gesellschaft als eine Form abweichenden Verhaltens verstanden werden, deren Kontrolle und Eingrenzung Gegenstand polizeilicher und rechtlicher Interventionen, aber auch pädagogischer Präventionskonzepte ist.» (Scherr, 2013b).
Soziale Ungleichheit
Ungleichheit und Diskriminierung
Die soziale Ungleichheit, d.h. die ungleichen Lebensbedingungen und die gesellschaftliche Zuweisung ungleicher Lebensbedingungen, ist ein zentrales Thema soziologischer Forschung.
Es gibt eine Vielfalt von Ungleichheiten in der Gegenwartsgesellschaft, verursacht durch Ausbeutung, Diskriminierung, Hierarchisierung, Privilegierung. Es ist den Gesellschaften nicht gelungen, Armut und Arbeitslosigkeit zu beseitigen und allen Individuen ähnliche Zugangschancen zu erstrebenswerten Lebensbedingungen zu gewährleisten (Hormel & Scherr, 2013).
Die sozioökonomischen Lebensbedingungen sozialer Gruppen und die individuellen Lebenschancen stehen in einem engen Zusammenhang. So werden beispielsweise Ehen in der Regel zwischen Partnern geschlossen, die ein ähnliches Bildungsniveau haben. Die eingenommenen Positionen in den gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen beeinflussen alle Lebensbereiche, besonders auch die Erziehung von Kindern und Jugendlichen und die Chancen für deren schulischen Erfolg oder Misserfolg.
Die Thematik der sozialen Ungleichheiten betrifft sowohl die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen innerhalb der modernen Gesellschaften Mitteleuropas und Nordamerikas als auch die Armut und die Ungleichheiten in der Weltgesellschaft.
Ungleichheit und Pädagogik
Ungleiche Lebensbedingungen haben eine Auswirkung auf schulisches Lernen und schulische Karrieren. Zahlreiche soziale Probleme sind unmittelbare Folgen von Armut und sozialer Benachteiligung. Pädagogik scheitert dann oft daran, gesellschaftliche Probleme und ihre Folgen zu überwinden.
Oft bringt Pädagogik auch aktiv Ungleichheit hervor, z. B. dadurch, dass in Schulen sprachliche Kompetenzen bewertet werden, die durch die Organisation Schule nicht vermittelt, sondern vorausgesetzt werden (Hormel & Scherr, 2013).
Ob die Gewährleistung gleicher Lebenschancen ein erklärtes Ziel der Pädagogik ist, ist allerdings umstritten. Welche Ungleichheiten zu überwinden oder zu verändern und welche hinzunehmen sind, ist eine laufende und kontrovers geführte Debatte (Hormel & Scherr, 2013).
Diskriminierung
In unterschiedlichen Kontexten, wie z.B. in der Migrations- und Rassimus-, aber auch in der Geschlechterforschung, ist darauf hingewiesen worden, dass gewisse Formen der Benachteiligung den Angehörigen bestimmter Gruppen spezifische Eigenschaften zuschreiben und aufgrund dieser Eigenschaften soziale Ungleichheiten legitimieren. Solche diskriminierende Gruppenkonstruktionen können dazu führen, dass ökonomische, politische und rechtliche Benachteiligungen nicht als problematische Ausserkraftsetzung des Prinzips der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Individuen wahrgenommen werden, sondern als akzeptable Folge der Andersartigkeit der jeweiligen Gruppe. In Praktiken der Diskriminierung verknüpft sich in diesem Fall die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften mit einer Ungleichbehandlung, die auf Grund dieser angenommenen Eigenschaften als sozial erforderlich und erlaubt gilt (Hormel & Scherr, 2013).
Diskriminierung ist von Bedeutung für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit zwischen Klassen und Schichten. Die Zuweisung ungleicher Positionen auf Arbeitsmärkten und im Bildungssystem lässt sich nur auf Dauer aufrecht erhalten, wenn es gelingt, sie als Folge der sozial nicht veränderbaren Unterschiede zwischen kategorial unterschiedenen Gruppen darzustellen (Hormel & Scherr, 2013).
Soziale Ungleichkeit und Bildung
Als historische Beispiele für soziale Ungleichheit nennt Hradil (2010, S. 211):
Wo und wann immer Menschen zusammen lebten und arbeiteten, waren bestimmte Menschen besser als andere gestellt. So lebten in der Antike Sklaven unter wesentlich schlechteren Umständen als freie Bürger. In Industriegesellschaften finden wir gleichzeitig entmutigende Armut und luxuriösen Reichtum; wir sehen integrierte Normalbürger und randständige Asylbewerber; wir erleben beruflichen Auf- und Abstieg, sichere Anstellungen neben Arbeitslosigkeit, bessere und schlechtere Entlöhnung; viele Frauen kämpfen für Gleichberechtigung, und viele Männer üben sich in stiller Verteidigung ihrer Begünstigungen; in Ostdeutschland fehlt manches, was in Westdeutschland mehr oder minder reichlich vorhanden ist, z. B. Arbeitsplätze und Vermögen (Hradil, 2010).