Humanistische Modelle
43 Kritik der humanistischen Modellen
Der Heterogenität der Ansätze und Denkmodelle, die unter der humanistischen Psychologie subsumiert werden, entspricht die Heterogenität der Einschätzungen dieser Modelle durch die zitierten Autoren. Das Spektrum reicht von bedingungsloser Annahme aller Postulate und Gedanken bis zu relativ kritischen Rezeptionen und kritischer Auseinandersetzung. So schreibt Comer (2008): Trotz seiner Qualitäten gerät das humanistisch-existenzialistische Modell gerade wegen seiner Betonung der abstrakten Aspekte der menschlichen Sinnsuche in Schwierigkeiten: Diese Aspekte sind der Forschung nicht zugänglich. Obschon Rogers selbst seine Methoden mit empirischen Tests überprüfte, lehnen die Humanisten und Existenzialisten im allgemeinen die experimentellen Methoden ab. Sie glauben, dass diese Methoden ihre Ideen nicht angemessen überprüfen können, und sie behaupten, dass den heutigen Forschern die feinen, inneren Erfahrungen gewöhnlich entgehen, da sie nur das beachten, was sie objektiv definieren können. Die Humanisten und Existenzialisten versuchen, ihre Ansichten durch Logik, Introspektion und Einzelfallstudien plausibel zu machen. Zwar sind sie mit dieser Position aufrichtig und prinzipientreu, doch sie führt dazu, dass das Modell nur begrenzte empirische Prüfung oder Bestätigung erfahren hat.
Und Gröschke schreibt (1992, S. 126): Hier [besteht] eine gewisse Gefahr im Denken der Humanistischen Psychologie: Ihre Vorliebe für das kraftvolle, gesunde, reife, autonome und sich selbst verwirklichende Individuum verkennt nicht nur leicht die psychosoziale Wirklichkeit des «gewöhnlichen» Menschen, sondern könnte unter der Hand sogar in einen Inhumanismus umschlagen, in dem «weniger entwickelte Personen» unter Umständen als «weniger menschlich» gelten könnten, weil ihre ökonomische, soziale oder ethnische (oder auch psychophysische) Situation ihnen keine Chance gibt, die menschlichen Fähigkeiten und Potenziale herauszubilden, die das Hauptinteresse der humanistischen Psychologie sind (nach Graumann, 1980).
Kritischer Kommentar (Straub, 2012)
Eine kritische Auseinandersetzung mit der humanistischen Psychologie und ihren mannigfachen esoterischen Verzweigungen findet sich im Band von Straub (2012), dessen Vorwort hier teilweise zitiert wird:
Die Humanistische Psychologie trug massgeblich zum Siegeszug der (Wissenschaft) der Psychologie bei, die sich von Anfang an und ganz besonders auch als Humanistische Psychologie einem praktischen Programm verschrieben hatte, das entschieden und voller Optimismus auf die Optimierung des Menschen setzte. Dabei stützte und bezog sie sich, wie ihr Name schon sagt, auf die schillernde Tradition des Humanismus. Es gab in der Psychologie des 20. Jahrhunderts eine einst durchaus machtvolle humanistische Bewegung, die in der Wissenschaft und in der beruflichen und privaten Praxis zahlloser Menschen deutliche Spuren hinterlassen hat.
[…] Die Humanistische Psychologie war und ist eine vielfältige und durchaus zwiespältige Angelegenheit. Für sie gilt, was auch auf den (Begriff des) Humanismus im Allgemeinen zutrifft: Nicht alles, was in seinem Namen ausgedacht und vollbracht worden ist, verbuchen wir heute einfach als Gewinn und Bereicherung, Wer sich seiner verzweigten Tradition erinnern möchte und aus ihr lernen will, kommt um Revisionen und Reinventionen nicht herum. Bevor derartige Erneuerungen versucht werden können, bedarf es verlässlicher, tragfähiger Rekonstruktionen der Geschichte und Gegenwart.
[…] Diese Psychologie wollte die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung von vorneherein nicht als praktisch folgenlose I’art pour l’art begreifen und betreiben, ganz im Gegenteil. Sie startete mit einem heute doch etwas grandios erscheinenden Programm. Sie wollte nichts weniger, als der Menschheit einen Weg aus der Misere weisen. Sie trat mit einem wahrlich verheissungsvollen Versprechen auf die Bühne einer von Konflikten und Krisen geplagten Welt. Sie kündigte an, ganz im Sinne der oben enwähnten Optimierung des Menschen, nichts weniger als einen neuen Menschen zu formen. Dies sollte auf dem fruchtbaren Boden einer neuen Psychologie gelingen, die als eine dezidiert «positiv» eingestellte Unternehmung konzipiert war. Als solche wollte die Humanistische Psychologie, anders als die um Defizite, Störungen oder Krankheiten besorgte Psychologie vorangegangener Zeiten, an den faszinierenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, insbesondere an den kreativen Potenzialen und keineswegs schon ausgeschöpften Möglichkeiten des Menschen ansetzen.
Literatur
Straub, Jürgen (Hrsg.). (2012). Der sich selbst verwirklichende Mensch. Über den Humanismus der humanistischen Psychologie. Bielefeld: Transcript.
Humanistische Psychologie und Forschung
Die humanistische Psychologie führt heute eher ein Schattendasein und hat wenig Auswirkungen auf Forschung, Lehre und Praxis der Psychologie. Die DGP (Deutsche Gesellschaft für Psychologie) führt z. B. unter ihren 15 Fachgruppen keine zur humanistischen Psychologie. Als eigenständige Bewegung innerhalb der Psychologie scheint sich die humanistische Psychologie in Auflösung zu befinden (Kollbrunner, 2012).
Das Modell der qualitativen Forschung, für das die humanistische Psychologie prädestiniert wäre, hat innnerhalb der humanistischen Psychologie keine Bedeutung erlangt, während es in den Sozialwissenschaften eine zunehmende Verbreitung und Akzeptanz erreicht hat.
Die Humanistische Psychologie hat es nicht geschafft, den ihr besonders nahe stehenden «idiographischen (qualitativen, geisteswissenschaftlichen) Ansatz zum Erkenntnisgewinn», in welchem dem Erleben des untersuchten Subjekts und der Subjektivität des Forschers hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden (Jaeggi 2002), dem nomothetischen (quantitativen, naturwissenschaftlichen) als gleichwertig gegenüberzustellen. Sie hat sich nie ganz von den Methoden der naturwissenschaftlich konzipierten Psychologie befreit (Kollbrunner, 2012).
Es gibt jedoch auch Lichtblicke: In neueren Arbeiten verknüpft Lux (2007) den Personzentrierten Ansatz mit neurowissenschaftlichen Konzepten. Er kann anhand klinischer Beispiele die Wirkung der Personzentrierten Psychotherapie aus neurowissenschaftlicher Sicht nachweisen und belegt damit die Bedeutung des achtsamen Eingehens auf die Gefühle des Gegenübers (S. 163).
Literatur
Lux, M. (2007). Der Personzentrierte Ansatz und die Neurowissenschaften. München: Reinhardt.