Humanistische Modelle
38 Humanistische Erklärungen abweichenden Verhaltens
Wir alle haben das grundlegende Bedürfnis nach positiver Wertschätzung durch unsere Bezugspersonen (als Kinder in erster Linie durch unsere Eltern). Diejenigen Kinder, die von Anfang an unbedingte (nicht beurteilende) positive Wertschätzung erhalten, können als Erwachsene mit grösserer Wahrscheinlichkeit sich selbst akzeptieren. Das heisst, sie können ihren Wert als Person anerkennen, auch wenn sie merken, dass sie nicht vollkommen sind. Sie sind mit sich zufrieden und können sich realistisch einschätzen. Solche Menschen verfügen über gute Voraussetzungen, das in ihnen schlummernde positive Potenzial verwirklichen zu können (Comer, 2008).
Manche Kinder bekommen zu wenig Wertschätzung oder bilden sich ein, zu wenig Wertschätzung zu erhalten. In der Folge bilden sie sich ein, dass sie nur dann liebenswert und akzeptabel sind, wenn sie den Massstäben ihrer Umwelt entsprechen, und sie bewerten sich dann auch anhand dieser Massstäbe. Oft haben sie den Eindruck, ihre Gedanken, ihr Verhalten oder ihre Gefühle erreichten diese Massstäbe nicht, und sie halten sich infolgedessen für wertlos.
Als Erwachsene sind solche Menschen in einer schwierigen Lage. Einerseits haben sie ein grundlegendes, allumfassendes Bedürfnis nach positiver Selbstbewertung; andererseits sind sie unfähig, sich selbst zu lieben, wenn sie ihren hohen Ansprüchen nicht jederzeit entsprechen. Um sich ihre positive Selbstbewertung zu erhalten, müssen sich diese Menschen selbst sehr selektiv wahrnehmen und Gedanken und Handlungen verleugnen oder entstellen, die ihren Wertmassstäben nicht ganz entsprechen. Die ständige Selbsttäuschung macht diesen Menschen die Selbstverwirklichung unmöglich. Sie haben ein verzerrtes Bild von sich selbst und ihren Erfahrungen und wissen deshalb nicht, was sie wirklich fühlen oder brauchen, oder welche Werte und Ziele für sie sinnvoll sind (Comer, 2008).
Existenzialistische Erklärungen abweichenden Verhaltens
Wie die Humanisten glauben die Existenzialisten, dass psychische Störungen auf Selbsttäuschungen zurückgehen; doch sie reden von einer Selbsttäuschung, die dadurch charakterisiert ist, dass sich die Menschen vor Verantwortung drücken und nicht erkennen, dass es an ihnen liegt, ihr Leben sinnvoll zu gestalten, und dass sie die Fähigkeit und die Freiheit dazu haben.
Den Existenzialisten zufolge fangen Meschen dann an, persönliche Verantwortung und Entscheidungsfreiheit zu scheuen, wenn sie überflutet werden von den ständigen Reizen, Veränderungen, der Verwirrung und der emotionalen Belastung der modernen Gesellschaft sowie von besonderen Belastungen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Viele Menschen suchen in dieser Situation nach Führung und Autorität und passen sich übermässig an soziale Normen an. Andere entwickeln einen tiefsitzenden Groll gegen die Gesellschaft. Alle übersehen ihre persönliche Entscheidungsfreiheit und entziehen sich der Verantwortung für ihr Leben und ihre Entscheidungen. Diese Fluchtmöglichkeit hat einen hohen Preis: Diese Menschen führen ein leeres, nichtauthentisches Leben. Ihre vorherrschenden Gefühle sind Angst, Frustration, Entfremdung und Depression (Comer, 2008).