Biologische Modelle

66 Biologische Psychologie

Neurologische Grundlagen

Gehirn mit Grosshirn aussen, Mittelhirn mittig und Kleinhirn im inneren, hinteren Bereich.
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Hirnanatomie

Das Gehirn enthält ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen, die Neuronen, und Tausende Milliarden von Hilfszellen, die Gliazellen. Innerhalb des Gehirns bilden grosse Neuronenverbände anatomisch unterscheidbare Bereiche oder Hirnregionen.

An der Basis des Gehirns befindet sich das Rautenhirn. Dazu gehören unter anderem das verlängerte Rückenmark, die Medulla und Pons sowie das Kleinhirn (Cerebellum). Das Mittelhirn (Mesencephalon) enthält ebenfalls wichtige Kerngebiete und stellt einen Koordinations- und Durchgangsbereich für die umliegenden Areale dar. Das Zwischenhirn (Diencephalon) enthält unter anderem den Hypothalamus und die Hypophyse. Einen weiteren wesentlichen Bestandteil des Zwischenhirns bildet das grosse, paarig angelegte graue Kerngebiet des Thalamus. Das Endhirn (Telencephalon) enthält schliesslich die beiden Grosshirnhemisphären, die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind (Comer, 2008, S. 70).

Schematische Anordnung der Gehirnlappen in die Bereiche: Frontallappen, Parietallappen, Okzipitallappen, Temporallappen, Stammhirn und Kleinhirn.
(c) Wikipedia

Die beiden Grosshirnhälften werden weiter unterteilt in Stirn- oder Frontallappen, Scheitel- oder Parietallappen, Schläfenhirn oder Temporallappen und Hinterhaupt- oder Okzipitallappen. In jedem dieser Bereiche sind unterschiedliche psychisch-kognitive Funktionen angesiedelt. So sind die Okzipitallappen für das Sehen verantwortlich, der Parietallappen für die Koordination von räumlicher Wahrnehmung mit anderen Funktionen, die Hirnrinde des Temporallappens und die darunter liegenden subkortikalen Kerne wie der Hippocampus für das Gedächtnis. Der Frontallappen enthält mit den subkortikalen Basalganglien die motorische Organisation, und der präfrontale Bereich stellt den Koordinationsbereich des Gehirns dar, der für Aufmerksamkeitsprozesse, Willkürhandlungen und das Bewusstsein zuständig ist (Comer, 2008; S. 70).

Video: Hirnanatomie und biologische Vorgänge

Im folgenden Videoausschnitt erklärt Dr. med. Claudia Croos-Müller Grundlagen der biologischen Vorgänge im Gehirn (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014).

Geschichte der biologischen Modelle

Schema der Säftetheorie nach Galen und Hippokrates.
Säftetheorie nach Galen und Hippokrates

Schon in der Antike wurde versucht, psychische Störungen mit Veränderungen im Körper zu erklären. Hippokrates (um 400 v.Chr.) entwickelte die Säftetheorie (auch Viersäftelehre) zur Erklärung allgemeiner körperlicher Vorgänge, aber auch als Krankheitslehre (die vier Säfte: gelbe Galle, schwarze Galle, Blut, Schleim). Weiterentwickelt wurde die Theorie von Galen (ca. 130-200 n.Chr.). Sie besagt, dass ein bestimmtes Mengenverhältnis von Körperflüssigkeiten das Temperament bestimmt, und dass der Überschuss eines der Säfte einen Krankheitszustand hervorruft. So soll etwa ein Überschuss von schwarzer Galle die Melancholie hervorrufen.

Als biologisch-psychiatrisch relevante Entdeckungen des frühen 20. Jahrhunderts gelten die Erkenntnisse zur Neurotransmission, die Einsichten in Struktur und Funktion des limbischen Systems, die Entwicklung der Elektroenzephalographie und die aus psychochirurgischen Eingriffen abgeleiteten Modellvorstellungen zu morphologischen Korrelaten psychischer Auffälligkeiten.

Auch die Entwicklung wirkungsvoller, wenngleich damals in ihren Wirkmechanismen schlecht verstandener biologischer Therapien, insbesondere Insulinschock und Elektrokrampftherapie, kann in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben (Köhler, 2005).

Moderne biologische Theorien psychischer Störungen bauen auf den Kenntnissen über die Neurotransmission und ihren möglichen pathologischen Veränderungen auf. Der Anfang der biologischen Psychiatrie in heutiger Form fällt also in jene Zeit, in der eine deutlich verbesserte pharmakologische Beeinflussung psychischer Zustände möglich wurde. Gleichzeitig wurden Anstrengungen unternommen, diese Beeinflussung auf dem Hintergrund biochemischer Modelle psychischer Störungen zu verstehen (Köhler, 2005).

Beispiele:

  • Die Entdeckung der antipsychotischen Eigenschaften des Chlorpromazin anfangs der 1950er Jahre und die Formulierung der aus den Nebenwirkungen der Neuroleptikabehandlung abgeleiteten Dopaminhypothese der Schizophrenie ungefähr ein Jahrzehnt später.
  • In den 1950er bis mittleren 60er Jahre fällt die Entdeckung der antidepressiven Eigenschaften des Imipramin und die Entwicklung der Katecholaminmangelhypothese der Depression (1965) (Köhler, 2005).
19. Jahrhundert: Direkteren Bezug zur heutigen biologischen Psychiatrie haben Arbeiten etwa aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beispielsweise jene, in denen die Beziehung zwischen Progressiver Paralyse und Syphilis diskutiert wurde. Der von Krafft-Ebing 1897 geführte Nachweis, dass Inokulation von Eiter aus syphilitischen Geschwüren bei Paralysepatienten nicht zur Infektion führte, sie also bereits zuvor mit dem Erreger konfrontiert gewesen sein mussten, lässt sich mit gewissem Recht als Geburtsstunde der modernen biologischen Psychiatrie betrachten (Köhler, 2005).

Grundlagen der Biopsychologie

Die Grundlagen der Biopsychologie werden anhand einer kurzen Einführung in die Grundprinzipien des Nervensystems und seiner Informationswege (nach Petermann et al., 2011) dargestellt.

Das zentrale Nervensystem

Das zentrale Nervensystem (ZNS) besteht aus Gehirn und Rückenmark. Es ist zuständig für die Integration aller Sinnesreize, für die kognitiven Funktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, Denken und Wahrnehmung), und es kontrolliert die Motorik und das Zusammenspiel aller körperlichen Abläufe. Ausserdem wird das ZNS als der materielle Sitz der Emotionen betrachtet (Petermann et al., 2011).

Synaptische Verbindung zwischen sendendem Neuron von Axon über Dentrit zum empfangenden Neuron.
(c) home.arcor.de/

Die Informationsübertragung im zentralen Nervensystem erfolgt auf elektrischem und chemischem Wege durch Botenstoffe oder Neurotransmitter. Als Beispiel wird von Petermann et al. (2011) die axodendritische Weiterleitung beschrieben:

Wird eine Nervenzelle erregt, verläuft die Information als elektrischer Impuls (Aktionspotenzial) entlang des Axons zur Synapse. Dort befindet sich ein Spalt, der die Kontaktstellen der Nervenzellen trennt. Das elektrische Signal löst eine Kette von chemischen Prozessen aus, die zur Freisetzung von Neurotransmittern in den synaptischen Spalt führen. Diese sorgen so für eine Übertragung der Information zur nächsten Nervenzelle. Ist der entsprechende Neurotransmitter erregend, kann er dort wiederum Aktionspotenziale auslösen. Ein Teil des ausgeschütteten Neurotransmitters wird bereits auf dem präsynaptischen Transport abgebaut, ein weiterer Teil aus dem postsynpatischen Spalt wieder aufgenommen (Wiederaufnahme). Sogenannte Wiederaufnahmehemmer unterdrücken dies und sorgen so dafür, dass mehr Neurotransmitter postsynaptisch aktiv bleiben. Diese stark vereinfachte schematische Darstellung darf nicht vergessen lassen, dass jede Nervenzelle üblicherweise mit unzähligen anderen Nervenzellen kommuniziert, und dass die Verrechnung vieler hemmender und erregender Signale erfolgen muss. Ausserdem spielen Rückkoppelungsprozesse (negatives Feedback) eine Rolle (Petermann et al., 2011, S. 106).

Die Neurotransmitter sind die Botenstoffe, die die Signale an den Synapsen von einer Zelle zur andern transportieren. Dieser Transport kann verschiedene Eigenschaften haben; so gibt es schnelle und langsame Neurotransmitter, erregende und hemmende, hochmolekulare und niedermolekulare. Die Rezeptoren für diese Transmitter reagieren zum Teil auch auf ähnliche Stoffe. So beeinflussen zum Beispiel Nikotin, Koffein, andere Drogen, aber auch diverse Pharmaka unseren Gehirnstoffwechsel (Petermann et al., 2011).

Das autonome Nervensystem

Das autonome (oder vegetative) Nervensystem (ANS) besteht aus Sympathikus, Parasympathikus und dem Darmnervensystem und koordiniert die Aktivität der Organe. Sympathikus (aktivierend) und Parasympathikus (beruhigend) sind Gegenspieler und werden je nach Situation aktiviert. In einer Stresssituation wird z.B. der Sympathikus stärker aktiviert (schneller Herzschlag), um den Körper kampf- oder fluchtbereit zu machen. Ungleichgewicht im ANS führt zu gesundheitlichen Schäden (Petermann et al., 2011).

Das autonome Nervensystem (Comer, 2008)
Beschreibung der Abbildung nach der Abbildung
Beschreibung der Abbildung

Das sympathische Nervensystem:

  • erweitert Pupille
  • regt Speicheldrüsen schwach an
  • entspannt Bronchien in Lungen
  • beschleunigt und verstärkt Herzschlag
  • hemmt Magentätigkeit
  • hemmt Tätigkeit der Bauchspeicheldrüse
  • regt Ausschüttung von Glukose durch Leber an
  • regt Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin durch die Nebenniere an
  • entspannt Blase
  • regt Samenejakulation an

Das parasympathische Nervensystem:

  • zieht Pupille zusammen
  • regt Speicheldrüsen stark an
  • verengt Bronchien in Lungen
  • verlangsamt Herzschlag
  • regt Magentätigkeit an
  • regt Tätigkeit der Bauchspeicheldrüse an
  • regt Gallenblase an
  • zieht Blase zusammen
  • regt Erektion der Geschlechtsorgane an

Das Zentralnervensystem besteht aus:

  • Gehirn
  • Rückenmark
  • sympathische Ganglien

Biologische Grundlagen psychischer Zustände

(c) tagesanzeiger.ch/

Die biologischen Hintergründe verschiedener exemplarischer psychischer Zustände gewinnen in der klinischen Psychologie an Bedeutung und liefern Ansätze für das Verständnis der Entstehung und auch für die Behandlungsmöglichkeiten psychischer Störungen. Prozesse, die bedeutend für den Kontext und für das Verständnis psychischer Störungen sind z.B. Euphorisierung, Aktivierung, Sedierung, Anxiolyse (Angstlösung), Aggressivität und mangelnde Impulskontrolle (Petermann et al., 2011).

Beispiele: Der Sitz unseres Belohnungssystems im Nucleus accumbens wurde in Tierexperimenten gefunden. Wenn die Tiere intrakranielle Elektroden zur Selbstreizung nutzten, taten sie dies besonders intensiv, wenn dopaminerge Bahnen angesprochen wurden, die zum Nucelus accumbens führten. Das zeigt, dass die Euphorisierung (Lust/Unlust) mit dem dopaminergen Belohnungssystem zusammenhängt, das auch für das Suchtverhalten eine wichtige Rolle spielt (Petermann et al., 2011).
Der Aktivierungszustand spielt ebenfalls eine wichtige Rolle: eine massvolle Aktivierung ist erwünscht und erhöht Antrieb und Leistungsfähigkeit, aber sowohl mangelnde als auch übersteigerte Aktivierung kann sich problematisch auswirken, z.B. in Form von Panikanfällen und Übererregung.
Benzodiazepine verstärken die Wirkung des wichtigsten hemmenden Neurotransmitters GABA und haben daher eine beruhigende (sedierende) Wirkung. Man vermutet, dass es möglicherweise körpereigene (endogene) Benzodiazepine gibt, die durch Entspannungsübungen oder bei Phobiebehandlungen freigesetzt werden (Petermann et al., 2011).

Biologische Korrrelate psychischer Zustände und Prozesse (Petermann et al., 2011; zit. nach Köhler, 2005b).

Tabelle: Biologische Korrrelate psychischer Zustände und Prozesse

Zustand/Prozess
Vermutetes Korrelat
Bemerkungen
Euphorisierung (Lust; Verstärkung)
Aktivierung mesotelencephaler dopaminerger Bahnen (speziell zum Nucleus accumbens).
Gefunden über intrakranielle Selbstreizung; erklärt euphorisierende Wirkung vieler psychotroper Substanzen; bedeutsam wohl auch bei «natürlichen» Verstärkern.
Aktivierung
Vermehrte Aktivität des noradrenergen Systems.
Erklärt u. a. die psychostimulierende Wirkung von Kokain und Amphetaminen; vermutlich wichtig bei Panikattacken und Manie.
Sedierung und Anxiolyse
Aktivierung des GABAergen Systems; Besetzung von Benzodiazepinrezeptoren.
Erklärt sedierend-anxiolytischen Effekt von Benzodiazepinen und Barbituraten (eventuell auch von Alkohol).
Angst
Minderaktivität des GABAergen Systems (Fehlen von Benzodiazepinrezeptoren?); zudem wohl Aktivierung des noradrenergen und des serotonergen Systems.
Aktivierung des noradrenergen Systems vielleicht für akute Angstzustände, des serotonergen für chronische Ängstlichkeit verantwortlich (noch weitgehend Spekulation).
Aggressivität und mangelnde Impulskontrolle
Dysfunktion des serotonergen Systems, wohl eher im Sinne von Minderaktivität.
Hinweis aus Tierexperimenten mit Zerstörung serotonerger Neurone; Befunde zu Serotoninmangel oder reduzierter Ansprechbarkeit von Serotoninrezeptoren bei aggressiven Personen; Wirkweise der SSRI bei Borderline-Störung noch ungeklärt.

Psychische Störungen aus biologischer Sicht

Die neurobiologischen Hintergründe interessieren dann besonders, wenn sich bei psychischen Störungen genetische oder strukturelle Veränderungen im Gehirn nachweisen lassen, die die Symptomatik mit bedingen oder die im Verlauf der Krankheit auftreten.

Im Idealfall ist das Individuum fähig, die pathogenen Faktoren, die in der Person vorhanden sind und die mit dem Umfeld interagieren (siehe bio-psycho-soziales Modell) zu kontrollieren. Dies wird als Gesundheit definiert.

Bei ungünstigen Konstellationen der beteiligten Faktoren können Störungen entstehen. Für die meisten Störungsbilder gilt aber, dass komplexe Wechselwirkungen der beteiligten Faktoren eine eindeutige Zuschreibung der Störungsursachen erschweren oder verunmöglichen (Petermann et al., 2011).

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Petermann et al. (2011) beschreiben zwei exemplarische Störungsbilder, für die biologische Faktoren als wichtig angesehen werden:

Essstörungen

Essstörungen verursachen neurokognitive Veränderungen, die hirnorganische Konsequenzen nach sich ziehen. Bildgebende Verfahren zeigen morphologische Gehirnveränderungen, die nur teilweise reversibel sind. Kognitive Beeinträchtigungen wie mangelnde selektive Aufmerksamkeit und kognitive Flexibilität können auch nach einer Gewichtsstabilisierung fortbestehen. Dies sind wichtige Störvariablen, die in einem therapeutischen Prozess berücksichtigt werden müssen.

Depressionen

Depressionen verursachen kognitive Einschränkungen. Es gibt jedoch verschiedene Theorien darüber, wie biologische Faktoren die Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression beeinflussen. Hauptsächlich werden Störungen der neuronalen Erregungsübertragung dafür verantwortlich gemacht. Die Serotonin-Hypothese geht von einem Mangel des Neurotransmitters Serotonin aus. Auch der Neurotransmitter GABA könnte eine Rolle spielen, wie auch Veränderungen in der Zahl und Funktion spezifischer Rezeptoren.

Biopsychologische Themen bilden ein komplexes Gebiet, das noch viele offene Fragen beinhaltet, wie Petermann et al. (2011) schreiben:

Bei der Auseinandersetzung mit biopsychologischen Themen wird zum einen schnell deutlich, dass es sich um ein komplexes Gebiet mit noch vielen offenen Fragen handelt. Ausserdem ergibt sich der Eindruck, dass eine Trennung von biologisch oder psychologisch eher auf unserem traditionell dichotomen Körper-Seele-Verständnis beruht, als auf fundierten Erkenntnissen. Wir entwickeln uns auf der Basis eines genetischen Programms und seiner resultierenden Prädispositionen, die durch Faktoren wie Erfahrungen und Anpassung an unsere Umwelt beeinflusst werden. Ebenso verhält es sich mit unseren kognitiven und emotionalen Fähigkeiten. Wir verfügen über bestimmte Voraussetzungen, um Informationen zu erfassen, die uns angeboten werden, und das Angebot wiederum beeinflusst unsere Fähigkeit zur Informationsverarbeitung. Wir zeigen bestimmte Vorlieben und Problemlösekompetenzen, die auf biologischen, psychischen und sozialen Faktoren basieren. Daraus folgen wiederum Veränderungen und Konsequenzen, die unser Verhalten und Erleben beeinflussen (Petermann et al., 2011, S. 113).

Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie

Wir erfahren unsere Umwelt und die Vorgänge in unserem Organismus über die verschiedenen Sinnesorgane, die die entsprechenden Informationen an das Zentralnervensystem weitergeben. Die wichtigsten Sinnesorgane sind das Auge, das Ohr, das Geschmacksorgan der Zunge, das Riechorgan der Nase, das Tast- und Temperaturorgan der Haut und das nozirezeptive System (Schmerz). Die Leistungen der Sinnesorgane und die Verarbeitung ihrer Informationen in den sensorischen Anteilen des Gehirns werden im Rahmen der objektiven Sinnesphysiologie untersucht (Birbaumer & Schmidt, 1993).

(c) www.spektrum.de/

Die Sinnesorgane und ihre Aktivitäten lösen Empfindungen und Wahrnehmungen aus. Diese erfahren wir direkt, oder sie werden uns von andern Menschen mitgeteilt. Bei Tieren schliessen wir aus dem Verhalten auf die Wahrnehmungen. Die Untersuchung menschlicher oder tierischer Wahrnehmung geschieht im Rahmen der Wahrnehmungspsychologie (Birbaumer & Schmidt, 1993). Sie beschäftigt sich mit den Gesetzmässigkeiten, die zwischen Sinnesreizen und den durch sie ausgelösten Empfindungen und Verhaltensweisen bestehen.

Phänomene aus der Umwelt werden über die Interaktion mit Sinnesorganen zu Sinnesreizen, die sensorische Gehirnzentren erregen. Über das Zentralnervensystem und die darin repräsentierten Erfahrungen, Gedächtnisinhalte und Emotionen entstehen daraus Sinneseindrücke und Empfindungen, die über die Bewusstseinsbildung zur Wahrnehmung werden (Birbaumer & Schmidt, 1993, S. 299).

Übergang von der objektiven Sinnesphysiologie zur Wahrnehmungspsychologie, wie im Text beschrieben.
(c) Birbaumer & Schmidt, 1993, S. 299

Einschränkend sagen Birbaumer und Schmidt (1993) dazu:

Der «nahtlose» Übergang zwischen objektiver Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie (siehe Abbildung) darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keineswegs als allgemein akzeptiert anzusehen ist, dass die psychischen Phänomene der Empfindungen und Wahrnehmungen überhaupt etwas gemeinsam haben mit den materiellen Phänomenen der objektiven Sinnesphysiologie, wie den Erregungsmustern der Sensoren und Neurone. Diese Frage ist natürlich nur ein Teilaspekt der generellen Frage nach Wesensgleichheit oder -verschiedenheit von Materie und Geist oder «Hirn und Seele» (Birbaumer & Schmidt, 1993, S. 299).

Video: Sinne – Erleben, Gefühl und Handeln

Im folgenden Videoausschnitt erklärt Dr. med. Claudia Croos-Müller, wie die Sinne unser Erleben und Handeln bestimmen (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014).

Gefühle und Emotionen

Die Untrennbarkeit von Gedanken, Vorstellungen und Verhaltensweisen von ihren emotionalen Begleitreaktionen ist nicht nur eine Begleiterscheinung unseres Denkens, sondern integraler Bestandteil davon. Sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Emotionen stören das Zusammenleben mit anderen Menschen erheblich und können zu individuellen und sozialen Katastrophen führen (Birbaumer & Schmidt, 1993).

(c) kunstkopie.de/

Gefühle oder Emotionen sind Reaktionsmuster auf drei Verhaltensebenen (subjektiv, physiologisch, motorisch), die Annäherung oder Vermeidung auslösen und mit unterschiedlicher Erregung verbunden sind. Dies kann mit den beiden Dimensionen angenehm<>unangenehm und erregend<>desaktivierend beschrieben werden (Birbaumer & Schmidt, 1993).

Gefühle und Stimmungen

Die primären Emotionen sind angeborene Reaktionsmuster, die in vielen Kulturen gleich ablaufen. Sie dauern in der Regel einige Sekunden. In dieser Zeit treten gleichzeitig verstärkte physiologische Reaktionen auf (z.B. beschleunigter Puls). Als primäre Emotionen gelten Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und Ekel. Gefühle haben eine kommunikative Bedeutung, deren innerer und äusserer Ausdruck in der Evolution geformt wurde (Birbaumer & Schmidt, 1993).

Stimmungen dauern länger an (Stunden oder Tage) und machen das Auftreten bestimmten Emotionen wahrscheinlicher (z.B. führt gereizte Stimmung häufig zu Ärger). Emotionen rufen tendenziell gerichtete motorische Verhaltensweisen hervor (Annäherung oder Vermeidung), während Stimmungen eher kognitive Prozesse begünstigen, wie Vorstellungen und Gedanken.

Gesichtausdruck und primäre Emotionen

In den meisten Kulturen sind einige grundlegende primäre Emotionen im Gesichtsausdruck einander so ähnlich, dass sie auf Photographien oder Filmen sofort erkannt werden. Emotionen auf Photos werden als Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und Ekel zweifelsfrei erkannt. Daraus schloss man, dass die Änderungen des Gesichtsausdruckes und anderer Muskeln genetisch determiniert sind. Dieser Schluss könnte voreilig sein, auch wenn unsystematische Beobachtungen dies zu stützen scheinen: Sowohl pränatale wie postnatale Einflüsse könnten zu einer (unbemerkten) Verstärkung der Änderungen des Gesichtsausdruckes führen. Zum Beispiel belohnen Eltern bereits unmittelbar nach der Geburt jene Ausdrucksäusserungen des Kleinkindes stärker, die eher den kulturellen Gegebenheiten angepasst sind. Dadurch entwickeln sich früh «kulturelle Überlagerungen» der vorgegebenen Ausdrucksäusserungen. Die unsichtbaren Aktivierungen der Ausdrucksmuskulatur müssen aber auf einer genetisch vorgegebenen Verbindung zwischen Gehirn und Muskulatur des Gesichts und anderer Muskeln aufbauen (Birbaumer & Schmidt, 1993, S. 713).

Video: Gefühle und herausforderndes Verhalten

Im folgenden Videoausschnitt erklärt Dr. med. Claudia Croos-Müller die Zusammenhänge zwischen Gefühlen und herausfordendem Verhalten (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014).

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