Biologische Modelle

68 Bezüge zur Heilpädagogik

Video: Herausforderndes Verhalten und Achtsamkeit

Es geht im heilpädagogischen Kontext darum, herausforderndes Verhalten zu erkennen und zu verstehen. Dies erfordert Achtsamkeit, und zwar gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber dem Kind oder Jugendlichen. Damit wird eine Situationsberuhigung ermöglicht — ein erster wichtiger Schritt zum Umgang mit herausforderndem Verhalten.

Im folgenden Video bezeichnet Dr. med. Claudia Croos-Müller herausforderndes Verhalten als eine Kopfsache und meint damit das Erkennen und Verstehen von Verhalten (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014).

Dieser Videoausschnitt enthält eine Übung in Selbsterfahrung und bringt damit das Thema unmittelbar in einen praktischen Bezug.

Video: Wohlbefinden ist lebenswichtig

Traumatisches Erleben führt zu negativen Emotionen und Affekthandlungen, die sich als Verhaltensmuster einprägen und Musteränderungen im Gehirn blockieren. Wie Dr. med. Claudia Croos-Müller im folgenden Videoausschnitt (Video aufgenommen an den Fortbildungstagen HfH im Januar 2014) ausführt, gibt es die folgenden Möglichkeiten, die Musteränderungen bewirken können:

  • ein Ende der Traumatisierung
  • Üben von Techniken, die positive Emotionen erzeugen
  • Beglückende Erlebnisse
  • Anerkennung von Fortschritten (Stolz statt Scham)

Beispiel: ADHS und der Stellenwert biologischer Erklärungsmuster

Becker (2007) wertete für den Zeitraum von 2000 bis 2006 53 Zeitschriftenartikel zum Thema ADHS aus, die aus den Bereichen Schulpädagogik, Sozialpädagogik und Sonder- bzw. Heilpädagogik stammten, und kam zu folgenden Ergebnissen:

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Allgemein wird ausführlich über die biologischen Grundlagen von ADHS diskutiert, werden Diagnosekriterien erläutert, werden gelegentlich Fallbeschreibungen eingebunden. Auch Experten aus anderen Disziplinen kommen zu Wort, ebenso wie Kritiker und Befürworter einer medikamentösen Behandlung. Die unterschiedlichen Perspektiven auf das Phänomen ADHS lassen sich an bestimmten Deutungsmustern über die Ursachen der Störung oder aber des Phänomens ADHS als solchem festmachen.

Die Frage nach den Ursachen der ADHS wird beinahe in sämtlichen Beiträgen aufgeworfen. Insbesondere die Behandlung mit Stimulanzien, die in der aktuellen Diskussion über Behandlungsmethoden einen hohen Stellenwert einnimmt, wirft die Frage nach dem Ursprung der Störung auf. Hinter der Diskussion über die Ursachen der ADHS steht die grundsätzliche Frage nach dem Anlage-Umwelt-Verhältnis. Hierzu lassen sich in den pädagogischen Beiträgen drei Positionen unterscheiden (Becker, 2007, S. 190):

  1. Ein Teil der Autoren orientiert sich an den medizinisch geprägten Modellen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und deutet ADHS als eine Störung, deren Ursachen primär in der genetischen Ausstattung (Anlage) zu suchen sind. Diese Position wird im Folgenden als «affirmativ» bezeichnet.
  2. Des Weiteren gibt es Autoren, die zwar nicht von einer ausschliesslich umweltbezogenen Genese der ADHS ausgehen, die der Perspektive einer primär biologischen Verursachung jedoch kritisch gegenüberstehen. Diese Position soll deshalb als «kritisch» gekennzeichnet werden.
  3. Neben diesen beiden Positionen, die vor allem durch ihre unterschiedlichen Haltungen bezüglich der Genese der ADHS — und weniger durch ihre Ansichten über die Behandlung — gekennzeichnet sind, findet sich im pädagogischen Diskurs eine dritte Position, die eine Sonderstellung einnimmt. Diese Position könnte man am ehesten als «zurückweisend» charakterisieren, da sie ADHS als ein Produkt sozialer Zuschreibungen beschreibt und ihr den Status als Krankheit bzw. psychische Störung abspricht. Dementsprechend fragt sie auch nicht nach der Ursachen der ADHS, sondern nach den Ursachen für die Entstehung und Verwendung des «Etiketts ADHS», die selbstredend nicht im Kind, sondern in der Gesellschaft zu suchen sind.

Nachfolgend weitere Auszüge aus dem Ortiginaltext (Becker, 2007):

Affirmative Position

Das affirmative Deutungsmuster ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es dem Modell einer primär genetischen Ursache der Störung folgt. Die Umweltgewinnt erst dann an Bedeutung, wenn es um die Stärke der Ausprägung der Störung geht. Auf diese Weise unterstützt diese Position einerseits die Deutungsansprüche der Psychiatrie bzw. Medizin, sichert der Pädagogik jedoch Einflussmöglichkeiten, indem sie dem starken Gen-Argument ein schwächeres, aber dennoch bedeutsames Umwelt-Argument zur Seite stellt. […]

Das Neurotransmitter- bzw. Dopamin-Modell ist eines der am häufigsten angeführten Modelle, wenn es um die biologischen Grundlagen von ADHS geht. Es wird in pädagogischen Fachzeitschriften vielfach aufgegriffen, jedoch in aller Regel, auch von Medizinern, nur knapp beschrieben. Das ist insofern problematisch, als es eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den neurobiologisch geprägten Argumentationsmustern unmöglich macht. Diese klingen zwar vergleichsweise kompliziert, doch man muss die neurobiologischen Modelle gar nicht bis ins Detail verstehen, um die Kerngedanken zu begreifen. Das eigentlich Interessante am Dopamin-Modell sind nämlich nicht die neurophysiologischen Vorgänge selbst, sondern die daraus abgeleiteten Kausalannahmen und Schlussfolgerungen, die in der pädagogischen Diskussion unhinterfragt rezipiert werden. Am wichtigsten ist hierbei sicherlich, dass die Wirksamkeit von Methylphenidat als Beleg für die Richtigkeit der Dopaminhypothese angeführt wird. […]

Das Dopamin-Modell: Die Wirkung von Methylphenidat bei Menschen mit ADHS ist gut nachgewiesen und wird im Umkehrschluss von einigen Autoren als Beleg für die Richtigkeit der Dopaminhypothese angeführt. Die zugrunde liegende Argumentation lautet: Da Methylphenidat die Kernsymptome der ADHS (motorische Unruhe, geringe Aufmerksamkeit, geringe Impulskontrolle) positiv beeinflusst und sich Methylphenidat auf die Wiederaufnahme von Dopamin auswirkt, liegt die Ursache von ADHS in einer verringerten Dopaminkonzentration bzw. in der erhöhten Bindungskapazität der Dopamintransporter. Und da diese wiederum «genetisch bedingt» ist, kann man daran primär mithilfe von Stoffen, die unmittelbar in den Transmitterhaushalt eingreifen, etwas ändern (Becker, 2007, S. 192-193).

Kritische Position

Die Auslöser von ADHS werden in konflikthaften Beziehungen und problematischen Lebenssituationen gesucht. Willenbring (2002, S. 34) merkt an, dass hinter «jedem negativen Verhalten … ein Lösungsversuch des Kindes [steht, d. Verf.], mit einer problematischen Situation umzugehen». Dementsprechend suchen die Kritiker des medizinischen Modells die Ursachen für ADHS im schulischen und persönlichen Umfeld der Kinder. Psychosoziale Belastungsfaktoren hätten sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt und es seien mehr familiäre Risikokonstellationen bei gleichzeitig abnehmender Erziehungskompetenz zu beobachten (Demisch/Zillessen 2003, S. 142). In der Schule müssten Kinder stillsitzen und über lange Zeiträume aufmerksam zuhören, und einige Kinder seien darauf nicht gut vorbereitet oder es falle ihnen einfach schwerer als anderen. Werning vertritt deshalb die Ansicht, dass sich die Schule, etwa durch mehr Projekte und offenen Unterricht, besser auf die Kompetenzen dieser Kinder einstellen müsse (Werning 2002, S. 8ff.) (Becker, 2007, S. 195).

Zurückweisende Position

Die schärfsten Kritiker der ADHS-Debatte vertreten die Ansicht, dass es zwar Kinder und Jugendliche geben mag, die motorisch aktiver, impulsiver und weniger aufmerksam als andere Kinder sind, doch die Etikettierung solcher im Prinzip bei jedem Kind vorkommenden Verhaltensweisen als Krankheit mit dem Namen ADHS lehnen sie ab. Sämtliche Autoren, die die Diagnose ADHS zurückweisen, tun dies unter anderem, indem sie die zugrunde liegenden Vorstellungen von Normalität hinterfragen. Die starke Präsenz biologischer Erklärungsmuster in öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskursen wird von den Autoren als ein Beleg dafür gedeutet, dass ein soziales Problem in ein biologisches umgedeutet wird, um dieses kurzfristig und kostengünstig zu lösen.

Der Sonderpädagoge Wolfgang Jantzen zeigt die Zunahme der Verordnung von Ritalin auf und bringt diese am Beispiel der USA in Zusammenhang mit sozialpolitischen Entwicklungen. Dort zeige sich, dass Ritalin den «billigsten Weg» darstelle, um Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in den Griff zu bekommen (Jantzen 2001, S. 224). Jantzen deutet die Biologisierung von Verhalten im Sinne Foucaults als Ausdruck einer Biopolitik, bei der ökonomische Interessen im Vordergrund stünden und «gesellschaftliche Ungleichheit in Biologie umgewandelt» werde (ebd.). Biologische Erklärungen für Verhaltensauffälligkeiten würden immer dann an Einfluss gewinnen, «wenn das soziale Interesse daran besteht», und dieses wiederum werde durch den Verweis auf Kostenfaktoren und den drohenden Ausfall von (menschlichen) Ressourcen genährt (ebd.) (Becker, 2007, S. 195).

Becker, N. (2007). Der Stellenwert biologischer Erklärungsmuster in der Debatte über ADHS. Eine Analyse pädagogischer Zeitschriften. In U. Mietzner, H.-E. Tenorth & N. Welter (Hrsg.), Pädagogische Anthropologie. Mechanismus einer Praxis (Beihefte Zeitschrift für Pädagogik, Bd. 52, S. 186–201). Weinheim: Beltz. Download Vollständiger Text.

Neurowissenschaften und Bezug zur Psychoanalyse

Die folgenden Gedanken stammen aus dem Buch Psychoanalytische Heilpädagogik von Manfred Gerspach (2009), der in einem speziellen Kapitel psychoanalytische und neurowissenschatliche Erkenntnisse in Beziehung setzt.

Gerspach (2009) diskutiert die Bedeutung der neuronal kodierten frühen Erfahrungen für die Entwicklung des Kindes. Die Hirnentwicklung eines Kindes ist stark von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz seiner erwachsenen Bezugspersonen abhängig. Das heisst, dass die neuronalen Verschaltungen und Erregungsmuster von aussen beeinflussbar sind. Die Hirnentwicklung wird also nicht primär durch genetische Programme gesteuert. Die synaptischen Verschaltungsmuster passen sich vielmehr während der Hirnreifung an die immer komplexer werdenden Anforderungen an. Das genetische Programm versetzt die sich entwickelnden Nervenzellen lediglich in die Lage, sich zu teilen, solange die äusseren und inneren Bedingungen dafür günstig sind (Gerspach, 2009).

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Die innerhalb der ersten Lebensjahre stattfindende Ausdifferenzierung des Gehirns ist also von der adäquaten Stimulierung durch einen anderen Menschen abhängig. Diese Erfahrung aktiviert spezifische neuronale Verbindungen, so dass darüber neue Synapsen gebildet und bereits vorhandene verstärkt werden.

Spiegelneuronen

Die Entdeckung eines Systems von Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn zeigte, dass es spezialisierte Gehirnstrukturen gibt, die Beziehungsaufnahme und Beziehungsgestaltung abbilden. «Zwischenmenschliche Belastungssituationen […] oder pure seelische Anspannung […] haben also die Aktivierung von Genen und somit zahlreiche biologische Effekte zur Folge» (Bauer 2005, zit. nach Gerspach, 2009, S78).

Die Beziehungserfahrungen hinterlassen demnach biologische Spuren. Das menschliche Gehirn hält spezialisierte neurobiologische Systeme bereit, um sie zu dekodieren, zu regulieren und in biologische Signale zu konvertieren. Die Spiegelneuronen können neurobiologische Mechanismen unterstützen, die das Lesen der Gedanken, Gefühle und Intentionen anderer Menschen ermöglichen. Eine Resonanz entsteht, die Empfindungen anderer in uns selbst weckt, ein Miterleben dessen, was ein anderer erlebt (Gerspach, 2009; S. 78).

Damit verbunden ist die Fähigkeit, eine beobachtete Handlung so zu erfassen, dass man sie imitieren kann und sich dadurch empathisch in einen andern Menschen einfühlen zu können.

Kinder, die an Autismus leiden, weisen eine Störung der Spiegelsysteme auf. Bereits im zweiten Lebensjahr zeigen sie eine verminderte Fähigkeit, spontane Gesichtsausdrücke oder Gesten zu imitieren, wobei unklar ist, ob es sich um eine primäre Dysfunktion im Bereich der biologischen Grundausstattung oder um fehlende Gelegenheiten zu wechselseitiger spiegelnder Kommunikation in den Monaten nach der Geburt handelt (Gerspach, 2009, S. 78).

Hirnstoffwechselprozesse stehen also in einer komplexen Beziehung zum bio-psycho-sozialen Kontinuum (Gerspach, 2009).

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