Modul 1

2 Auffassungen von Hochbegabung

Andere Länder, andere Sitten

Darüber, was eine Hochbegabung ist, gibt es unterschiedliche Meinungen. Die US-amerikanische Lesart unterscheidet sich stark von jener im deutschsprachigen Raum.

In den meisten einschlägigen Werken zur Hochbegabung steht geschrieben, dass mittlerweile über hundert verschiedene Definitionen von Hochbegabung und eine Reihe von Modellen zur Begabungsentwicklung existierten. Doch so schwierig ist es gar nicht, den Überblick zu wahren. Mögen sich die Ansichten nämlich in Details auch unterscheiden, zeigt eine nähere Analyse, dass alle in mindestens drei Punkten übereinstimmen:

  • Eine Hochbegabung wird als Fähigkeit zur Hochleistung betrachtet; eine Hochbegabung ist also immer bezogen auf eine ganz bestimmte Leistung.
  • Eine Hochbegabung allein reicht nicht aus, um überdurchschnittliche Leistungen erbringen zu können. Die Wissenschaftler würden sagen: Sie ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend.
  • Vielmehr sind für das Erbringen überdurchschnittlicher Leistungen (z.B. in der Schule) bestimmte Persönlichkeits- und Umweltmerkmale erforderlich.

Soweit der Konsens. Die einzelnen Modelle unterscheiden sich nun darin, welche Merkmale sie genau hervorheben, wenn es darum geht, herausragende Leistungen zu erklären. Darüber hinaus gibt es aber noch einen fundamentalen Unterschied darin, die eine Hochbegabung konzeptualisiert wird, ungeachtet aller Einigkeit in den Einzelheiten. Am besten lässt sich dies mit dem Kontrast zwischen der US-amerikanischen “Philosophie” und jener in Deutschland zeigen.

Für den US-amerikanischen Zugang sei das drei-Ringe-Modell von Joseph Renzulli dargestellt (s. Bild). Dabei fällt auf, dass hier nicht von “Hochbegabung” die Rede ist, sondern von “hochbegabtem Verhalten”. Die Grundidee: Jeder kann ein solches Verhalten zeigen – aber nur zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Situation und in einem klar abgegrenzten Gebiet. Findet man diese “Nische” für sich, zeigt man ein hohes Engagement und Kreativität, gepaart mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten in diesem Gebiet, kurz: man zeigt hochbegabtes Verhalten.

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Jeder kann hochbegabtes Verhalten zeigen? Nichts liegt den Machern des Münchner Modells der Hochbegabung ferner als diese Aussage. Vielmehr haben sie in zahlreichen Studien Merkmale identifiziert, die Hochleistende auszeichnen. Es sind dies eine hohe, aber nicht notwendigerweise sehr hohe Intelligenz (IQ von 115 oder mehr) sowie bestimmte Persönlichkeits- und Umweltmerkmale (s. Bild). Hochbegabung meint nach diesem Ansatz also jene Menschen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit herausragende Leistungen zeigen werden – und jene Kinder und Jugendlichen, die diese Merkmale aufweisen, sollen speziell gefördert werden (“Exzellenzförderung”).

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Aus pädagogischer Sicht ist es eine konzeptuelle Frage, für welchen Ansatz man sich entscheidet: Diejenigen zu fördern, die schon herausragende Leistungen erbringen bzw. sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erbringen werden (Münchner Modell) oder ob man sich ganz grundsätzlich der Aufgabe widmen möchte, für jedes Kind das Gebiet zu finden, in dem es besonders gut ist, ja, besser als die meisten anderen. Die erste Ausrichtung kann ganz grob als Begabtenförderung, die zweite als Begabungsförderung etikettiert werden. Aus heilpädagogischer Sicht sind beide interessant: Mit dem Münchner Modell können Faktoren identifiziert werden, die erklären können, warum ein hochbegabtes Kind Minderleistungen erbringt. Und mit dem drei-Ringe-Modell ist es möglich, die individuellen Begabungen aller Schülerinnen und Schüler genau in den Blick zu nehmen.

Fazit

  1. Hochbegabung steht immer in einem Zusammenhang zu einer Hochleistung und muss davon unterschieden werden.
  2. Das drei-Ringe-Modell aus dem US-amerikanischen Raum trägt die Grundidee in sich, dass alle Menschen in irgendeinem Gebiet “hochbegabtes Verhalten” zeigen können.
  3. Das Münchner Modell identifiziert Persönlichkeits- und Umweltmerkmale, die die Wahrscheinlichkeit herausragender Leistungen erhöhen.

Vertiefung

Lesen Sie in der Broschüre “FAQs zur Begabungs- und Begabtenförderung” vom Österreichischen Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung das Kapitel 1 zum Thema “Was ist Hochbegabung?” (17 Seiten). Wie entsteht eine Hochbegabung – und was kann deren Entfaltung erschweren?

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