2 Das visuelle System

Das visuelle System des Menschen ist hierarchisch strukturiert. Grob unterteilen lässt es sich in einen physiologischen (okularen) Bereich mit primär aufnehmenden Funktionen und einen cerebralen oder zentralen (neurologischen) Bereich, in welchem die Verarbeitung des Aufgenommenen erfolgt.

Die Verarbeitung der Lichtimpulse im Auge (peripheres System)

Die Augen, kugelförmige, mit Flüssigkeit gefüllte Hohlkörper, nehmen Sehinformationen auf, deren vielfältige Verarbeitung erst im Gehirn stattfindet. Wie Dutton betont, ist es das Gehirn, das „sieht“ (2013). Mit den Augen wird physikalische Energie in Form von Lichtwellen vom Sehsystem aufgenommen und über okulare Zwischenstationen zu den Rezeptoren der Netzhaut geleitet. Das okulare System besteht aus dem Augapfel und seinen Hüllen. Die innerste ist die Netzhaut (Retina) mit ihren Rezeptoren (farbempfindliche Zapfen und hell-dunkel-empfindliche Stäbchen). Bevor das Licht durch die Rezeptoren in elektrische Impulse umgewandelt wird, sorgen Hornhaut und Linse (brechende Medien) dafür, dass die eintreffenden Lichtstrahlen so gebündelt und gebrochen werden, dass sie genau auf der Netzhaut auftreffen. Wird ein ausgewähltes Objekt angesehen, so bildet es sich auf der Netzhaut in der Makula ab. Hier, im Zentrum der Netzhaut, sind die Rezeptoren dicht beisammen und entsprechend scharf wird das Objekt abgebildet. Bei zu starker oder zu schwacher Brechung rufen die Lichtstrahlen allerdings keine scharfe Abbildung eines Sehobjekts auf der Netzhaut hervor. Werden die Strahlen zu stark gebündelt, liegt ihr Brennpunkt bereits vor der Netzhaut; das Auge ist zu lang. Dieser Brechungsfehler wird als Kurzsichtigkeit (Myopie) bezeichnet. Bei zu schwacher Bündelung treffen sich die Strahlen erst hinter der Netzhaut. Das somit zu kurze Auge wird als weitsichtig (hyperop) bezeichnet. Beide Sehschwächen lassen sich durch Linsen, die die Lichtstrahlen entweder zusätzlich brechen oder der zu starken Brechung durch Streuung entgegenwirken, korrigieren. In der Netzhaut wird das Licht auf der Basis photochemischer Vorgänge in elektrische Impulse umgewandelt, welche als Nervenimpulse über Bipolar- und Ganglienzellen an die Fasern des Sehnervs (Nervus opticus) abgegeben und von diesen an zentralnervöse Strukturen im Mittel- und Zwischenhirn und letztlich an die Sehrinde weitergeleitet werden.

Aufbau des Augapfels

Sehverarbeitungsprozesse im Gehirn (zentrales System)

Nachdem die eingehenden Lichtsignale in der Netzhaut aufgrund fotochemischer Vorgänge in elektrische Impulse umgewandelt sind, werden sie über verschiedene Zellen zu den Fasern des Sehnervs geleitet. Im Chiasma opticum überkreuzt sich je die Hälfte der Nervenfasern, wodurch die Informationen aus den innenliegenden, nasalen Netzhautbereichen in die jeweils gegenüberliegende Hirnhälfte geführt werden. Auf verschiedenen Bahnen gelangen diese Impulse zu verschiedenen zentralnervösen Strukturen des Mittel- und Zwischenhirns und weiter zu den visuellen Rindenfeldern in den hinteren Teilen der Grosshirnhälften, den Okzipitallappen. Aufgrund der ausgeprägten funktionellen Spezialisierung des Gehirns erfolgt die Analyse bestimmter Informationsanteile in dafür je zuständigen einzelnen Arealen der Hirnrinde (Kortex).

Weiterleitung der visuellen Informationen über die Sehnerven zum visuellen Kortex

»Funktionelle Spezialisierung bedeutet, dass einzelne Areale in besonderer Weise für die Analyse bestimmter Informationsanteile wie Farbe, Form, Bewegung und Raum (Position, Entfernung, Richtung) ausgestattet sind. Sie spielen somit für die visuellen Teilleistungen eine kritische Rolle. Zusätzlich ist der visuelle Kortex topographisch organisiert, d. h. jedes visuelle Areal besitzt seine eigene Repräsentation des Gesichtsfeldes« (Zihl et al. 2012, 15).

Von den Okzipitallappen führt der dorsale Strom (= Wo-Pfad und Wie-Pfad) in die hinteren Parietallappen (Scheitellappen). Er ermöglicht eine Gesamteinschätzung sensorischer Eindrücke und ein Herausfiltern besonders relevanter Informationen. Damit sichert er das visuelle Suchen, die visuelle Aufmerksamkeit und letztlich die visuelle Steuerung der Bewegungen von Extremitäten und Körper. Der ventrale Strom (=Was und Wer Pfad) verbindet die Okzipitallappen mit den Temporallappen (Schläfenlappen), welche eine Art visueller »Bibliothek« des Gehirns enthalten. Er ermöglicht das (Wieder-) Erkennen des Gesehenen mitHilfe des visuellen Gedächtnisses für Menschen, Tiere, Objekte, Formen, insbesondere aber auch für Gesichter und Gesichtsausdrücke.

Das Modell dieser beiden Hauptrouten im neuronalen System ist aber zu erweitern durch die phylogenetisch ältere, tektale Bahn. Diese geht über den Vierhügel zu weiteren okulomotorischen Kernen und dann über das Pulvinar ein Kerngebiet des Thalamus, das sich über den Kniehöckern befindet) direkt in die Areale des visuellen Kortex. »Das Sehen erfolgt hier ohne direkte Bildanalyse, aber mit einer hohen Effektivität des Sehens von Bewegungen – wobei dieses oftmals unbewusst ist – aber wieder um direkte Handlungen – wie beispielsweise Ausweichen von einem Gegenstand – ermöglicht« (Hyvärinen 2001). Es scheint neurologisch eine Trennung zu geben zwischen dem Sehen, welches eine schnelle visuelle Kontrolle erfordert und insbesondere auch der räumlichen Orientierung dient, und demjenigen, welches zu bewusster visueller Wahrnehmung führt (Dutton 2001).

Analyse der Sehinformationen im Gehirn

Sehschädigungen, die nicht auf eine Schädigung der Augen und der vorderen Sehbahnen zurückzuführen sind, werden als zerebrale Sehschädigungen (CVI Cerebral Visual lmpairment) oder zerebral bedingte Sehbeeinträchtigungen bezeichnet. Zerebrale Sehbeeinträchtigungen sind heute die häufigste Ursache für Sehbeeinträchtigungen im Kindesalter. Sie können okulären Funktionsbeeinträchtigungen (Funktionsbeeinträchtigungen, die das Auge betreffen) ähneln, indem sie z. B. Auswirkungen auf den Visus, das Gesichtsfeld und das Kontrastsehen haben. Sie können jedoch auch zahlreiche andere Sehfunktionen betreffen, die bei okulären Schädigungen normalerweise nicht betroffen sind, wobei Sehfunktionen wie der Visus, das Gesichtsfeld, das Farbensehen oder das Kontrastsehen durchaus auch unbeeinträchtigt sein können. Aufgrund der unterschiedlichen Verarbeitungsorte im Gehirn kann es zu isolierten Ausfällen oder Beeinträchtigungen einzelner Sehfunktionen kommen, es können aber auch mehrere Beeinträchtigungen gleichzeitig auftreten. So ist bei einer Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) häufig auch das Erkennen von Objekten erschwertZerebrale Sehschädigungen können allerdings auch in Verbindung mit okulären Sehschädigungen auftreten.

 

Lizenz

Mehrfache Beeinträchtigung und Sehen Copyright © Fabian Winter. Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch teilen