5 Funktionale Diagnostik von Sehbeeinträchtigungen bei Kindern- und Jugendlichen mit Mehrfachbeeinträchtigung

In Anlehnung an: Hass, J. & Henriksen C. (2015). Im Blick?! Kinder und Jugendliche mit Sehschädigung und mehrfachen Beeinträchtigungen im Unterricht. Edition Bentheim Würzburg. 

Notwendige Voraussetzung für eine spezifische Förderung sehgeschädigter Schüler mit mehrfachen Beeinträchtigungen ist eine ausführliche und prozessbegleitende Diagnostik des funktionalen Sehens, die möglichst genau und umfassend die Auswirkungen der Sehschädigung und daraus folgende Konsequenzen für den Unterricht beschreibt. Für die Praxis ist diese Diagnostik des funktionalen Sehens von besonderer Bedeutung. Daher sollen im folgenden Abschnitt wichtige Aspekte vorgestellt werden (für ausführlichere Informationen vgl. Henriksen & Laemers 2016).

Verhaltensweisen eines Menschen als Auswirkung einer Sehbeeinträchtigung zu deuten, ist nicht immer einfach. Dies trifft besonders dann zu, wenn die Betroffenen sich nur bedingt oder gar nicht verbal ausdrücken können und aufgrund weiterer physischer oder psychischer Einschränkungen schwer zu interpretierende Verhaltensweisen zeigen. Um den Verdacht äußern zu können, dass bei einem Kind oder Jugendlichen zusätzlich zur Beeinträchtigung der Kognition eine Sehbeeinträchtigung vorliegt, müssen Eltern, Kinderärzte, Frühförderer, Lehrkräfte und andere Personen im Umfeld dazu in der Lage sein, Kennzeichen für eine Sehbeeinträchtigung zu erkennen.

Kleine Kinder und viele Kinder mit Mehrfachbehinderungen brauchen eine behutsame Heranführung an Testsituation. Dafür gibt es beispielsweise das LEA 3D Puzzle mit den Sehzeichen (Optotypen) als Puzzelteil. Diese können leicht in Spielsituationen eingebaut werden.

Am einfachsten sind Auffälligkeiten am Auge selbst festzustellen: Beispielsweise können Form oder Farbe der Augen auffällig oder Phänomene wie Augenzittern und Schielen zu beobachten sein. Gut zu erkennen sind auch häufiges Blinzeln, Zusammenkneifen oder Rötung und Tränen der Augen. Aber schon das Fehlen der Lichtreaktion der Pupillen bleibt im Alltag oft unentdeckt: Die Pupille passt sich durch Weiten oder Verengen den unterschiedlichen Lichtverhältnissen an. Diese Funktion kann aufgrund verschiedener Ursachen gestört sein. Verengen sich die Pupillen bei starkem Lichteinfall nicht, ist die Person vermehrter Blendung ausgesetzt (eine Erschwernis insbesondere für Personen mit einer Körperbehinderung, die sich nicht von der Lichtquelle abwenden können). Sind die Pupillen hingegen immer sehr verengt, ist gerade bei schwachem Licht das Sehen stark eingeschränkt. Gleichzeitig hat die Größe der Pupillen einen Einfluss auf unser Kontaktverhalten: Geweitete Pupillen wirken freundlich oder gar niedlich; stark verengte Pupillen erwecken eher einen unfreundlichen, abweisenden Eindruck, Diese Information von unserem Gegenüber nehmen wir eher unbewusst wahr und reagieren in der Kommunikation darauf. Auswirkungen einer Beeinträchtigung des Sehens können in den Bereichen Kommunikation, Orientierung und Mobilität, lebens- und alltagspraktische Fähigkeiten sowie Aufgaben, die ein länger andauerndes Sehen in der Nähe erfordern, beobachtet werden (Hyvärinen 2004). Diese Konsequenzen werden ausführlich beschrieben, so dass hier nur eine kurze – keinesfalls vollständige – Übersicht von Beispielen gegeben werden soll:

Kommunikation:

  • Kontaktformen sind durch eingeschränkten oder fehlenden Augenkontakt verändert.
  • Person erschrickt leicht, wenn Berührung ohne Vorwarnung erfolgt oder bei unerwarteten Geräuschen.
  • Person scheint an anderen Menschen vorbei zu sehen.
  • Person erweckt den Eindruck, als ob sie keine Rücksicht auf Menschen oder Gegenstände in der Umgebung nimmt.
  • Person tastet mit der Hand, um heraus zu finden, wo sich jemand befindet.
  • Gebärden, Handlungen oder Bewegungen erregen wenig Aufmerksamkeit
  • Andere Personen werden erst dann erkannt wenn sie sprechen oder sehr nahe kommen.

Orientierung und Mobilität:

  • Wege werden langsam und unsicher oder mit Hilfestellung zurückgelegt
  • Person stößt sich an Möbeln, Türrahmen o. ä., Hindernisse werden übersehen.
  • Veränderungen in Räumen (Möbel, Licht) beeinflussen die Mobilität
  • Motivation zur Fortbewegung ist gering.
  • In der vertrauten Umgebung funktioniert die Orientierung vergleichsweise gut – in fremder Umgebung wird mehr Hilfe benötigt.

Arbeiten, die ein länger andauerndes Sehen in der Nähe erfordern, und lebenspraktische Fähigkeiten

  • Gegenstände werden auffallend dicht an die Augen oder vor ein Auge geführt
  • Aufgaben, die Anforderungen an das Sehen stellen, führen zu rascher Ermüdung und erfordern mehr Kraftaufwand und Konzentration.
  • Beim Betrachten von Gegenständen wird der Kopf auf auffällige Art und Weise geneigt.
  • Während des Greifens sind Suchbewegungen festzustellen.
  • Gegenstände oder Arrangements werden vorwiegend tastend erkundet.
  • Wird die Anordnung am Platz ohne Vorankündigung verändert; werden die Dinge nicht wieder gefunden.
  • Handlungen können nicht oder nur eingeschränkt durch Nachahmen erlernt werden.

Auswirkungen der Sehbeeinträchtigung sind immer auch in den Bereichen Motivation und Konzentration zu beobachten, weil es länger dauert und mit mehr Anstrengung verbunden ist, Dinge und Gegebenheiten zu erfassen. Auf visuell anregende Materialien wird häufig verzögert reagiert. Bei einigen Schülern mit Beeinträchtigungen des Sehens sind das Interesse und die Neugier herabgesetzt, weil interessant Dinge oder Ergebnisse des eigenen Tuns nicht oder nur eingeschränkt visuell wahrgenommen werden.

Ballspiele können zur Beobachtung verschiedener Sehfunktionen verwendet werden. Wenn die Bälle auf beiden Seiten der Mittellinie des Gesichtsfeldes gerollt werden, kann man feststellen, ob das Kind die
Bewegung auf beiden Seiten symmetrisch wahrnimmt oder ein Halbfeld bevorzugt.

Der eigentliche diagnostische Prozess umfasst als wesentliche Bausteine eine Untersuchung durch den Augenarzt und eine Überprüfung des funktionalen Sehens. Durch die augenärztliche Untersuchung soll geklärt werden, ob Brechungsfehler wie Weitsichtigkeit, Kurzsichtigkeit, Hornhautverkrümmung oder andere krankhafte Veränderungen am Auge vorliegen (=Refraktionsfehler). Von großem Vorteil ist hierbei eine enge Kooperation zwischen Augenärzten, Eltern und pädagogischem Personal. Besonders bei beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen, die nur eingeschränkt sprechen können, erleichtert eine „Übersetzungshilfe“ dem Augenarzt die Deutung der individuell unterschiedlichen und mitunter verzögert auftretenden Reaktionen wie Lächeln, Lautieren oder eine Beschleunigung der Atemfrequenz.

Messung der Nahsehschärfe mit einzelnen Optotypen (LEA Playing Cards). Das Kind muss durch die Testleitung unterstützt werden. Das Kind antwortet mit Blickzuwendung und Kopfdrehung, was auf Video aufgezeichnet wird oder es gibt eine dritte Person, die die Antwort des Kindes registriert.

Die Überprüfung des funktionalen Sehens soll klären, wie das Kind oder der Jugendliche sein Sehvermögen in seiner gewohnten Umgebung nutzt, und erste Hinweise geben, ob Maßnahmen zur Erleichterung oder gar Verbesserung des Sehens getroffen werden können. Sie sollte in vertrauter Umgebung stattfinden, von bekannten Personen begleitet und von speziell qualifizierten Mitarbeitern, Low-Vision-Trainern oder Orthoptistinnen durchgeführt werden. In einigen Fällen ist es sinnvoll, die Tests vor dieser ersten Überprüfung dem Kind vertraut zu machen und zu üben.

Bei der Beurteilung des funktionalen Sehens sind folgende Funktionen einzubeziehen: Visuelle Aufmerksamkeit, Pupillenund Lidschlussreflex, Fixation, optokinetischer Nystagmus, Folgebewegungen, Formwahrnehmung, Sehschärfe, Gittersehschärfe, Kontrastsehen, Adaptation, Akkommodation, Konvergenz/Divergenz, Bewegungswahrnehmung, Gesichtserkennung, Farbsehen, Vergrößerungsbedarf und Gesichtsfeld.

Der Junge auf dem Bild kann mit dem führenden (dominanten) Auge fixieren. Dazu benötigt er jedoch seinen Finger als visuelle Referenz.

Diese Überprüfung bildet den Auftakt für eine prozessbegleitende Diagnostik. Eltern, Erzieher und Lehrkräfte beginnen danach oft, das Kind „probehalber mit anderen Augen zu sehen“ und gehen der Annahme nach, dass Beeinträchtigungen des Sehens vorliegen, die das Verhalten des Kindes erklären. Nicht selten erfolgen dann nach einiger Zeit erneute Überprüfungen des funktionalen Sehens, bei denen die gemachten Beobachtungen einfließen. Im folgenden Beispiel wurden im Verlauf der verschiedenen Überprüfungen immer genauere Ergebnisse ermittelt, weil sich der Schüler besser mit Anforderungen auseinandersetzen konnte.

Zusammenfassung

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Mehrfache Beeinträchtigung und Sehen Copyright © Fabian Winter. Alle Rechte vorbehalten.

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