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Grobplanung

Lernen am gemeinsamen Gegenstand

Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart werden immer wieder kontroverse Diskussionen über die Frage nach der Bedeutung der Bildung geführt. Auch Wolfgang Klafki beschäftigte sich Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Begriffen der «Bildung» und «Allge­meinbildung». Dabei stellte er sich die Frage: «mit welchen Inhalten und Gegenständen sich junge Menschen auseinandersetzen müssen, um zu einem selbstbestimmten und vernunftgeleiteten Leben in Menschlichkeit, in gegenseitiger Anerkennung und Gerechtig­keit, in Freiheit, Glück und Selbsterfüllung zu kommen?» (Klafki 1986: 461). Er kommt zum Schluss, dass einem unmündigen Menschen zur Mündigkeit verholfen werden müsse. Um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, benötigt jedes Kind Bildung. Das geht aus der Bildungstheorie von Klafki (2007) hervor. Seine kritisch-konstruktive Unterrichtsplanung basiert auf sieben Problemfeldern bzw. Fragedimensionen.

  • Gegenwartsbedeutung: Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt der Lektion bereits im Leben eines Kindes?
  • Zukunftsdimension: Worin liegt die Bedeutung des Inhaltes für die Zukunft der SuS?
  • Exemplarische Bedeutung: Unterrichtseinheiten in den allgemeinen Zielsetzungen
  • Thematische Struktur: Teillernziele und soziale Lernziele
  • Erweisbarkeit und Überprüfbarkeit
  • Zugänglichkeit und Darstellbarkeit
  • Lehr-Lern-Prozessstruktur (Terfloth & Bauersfeld, 2015, zitiert nach Klafki, 1986, S.21-22)

 

Werden diese Problemfelder bzw. Fragedimensionen berücksichtigt, fehlen allerdings die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder einer Klasse. Einer der ersten Pädagogen, der sich mit der Frage der Didaktik in einer integrativen bzw. inklusiven Schule auseinandersetzte, war Feuser. Er fordert einen Unterricht, welcher allen Kindern das Lernen am gemeinsamen Gegenstand ermöglicht. Das darin enthaltene Potenzial zur Kooperation ermöglicht es den Einzelnen, «ein für alle in den verschiedenen Dimensionen ihres Entwicklungsniveaus sinnhaftes und bedeutsames Ziel» (Feuser, 2013, S.5) zu erar­beiten. Jede und jeder Lernende beschäftigen sich mit demselben Inhalt, welchen sie/er auf ihre/seine eigene Art angeht. Im inklusiven Unterricht soll allen Kindern die Möglichkeit geboten werden, zu partizipieren. Um das möglich zu machen, ist das Konzept «Lernen in Kooperation am gemeinsamen Gegenstand» (Feuser, 2013) wesentlich.

Wenn Kinder gemeinsam lernen, werden im Austausch Informationen in die eigenen kog­nitiven Strukturen eingearbeitet. Das eigene Wissen und Können werden dadurch er­weitert, wenn Problemstellungen kooperativ angegangen werden (Lienhard-Tuggener, Joller-Graf & Mettauer Szaday, 2015).

Die Heterogenität in einer Klasse ist gemäss Müller Bösch und Schaffner Menn (2021) gross und wird noch grösser durch die Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Das Lernen am gemeinsamen Gegenstand ermöglicht es, den Unterricht so zu gestalten, dass alle Lernenden profitieren, sich entwickeln und erfolgreich lernen können. Es schafft Voraussetzungen, dass das Vorwissen und Erfahrungen des einzelnen Lernenden in möglichst vielen Situationen des Unterrichtsalltags berücksichtigt werden. Biographische Perspektiven, Motive, Interessen, Bedeutsamkeit, Zugänge und Aneignungsmöglichkeiten bilden die didaktischen Dimensionen und Aufgaben. Sie spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch ist die Frage zu beantworten, was der einzelne Schüler am ausgewählten, bildungsrelevanten Inhalt lernen kann. Jede Person ist etwas Einzigartiges und die Entwick­lung erfolgt in eigener Entwicklungslogik. Lehrpersonen können vielen Schülern in ihrem Lernen gerecht werden, wenn sie ihren Unterricht nach allgemeingültigen didaktischen Grundsätzen ausrichten (ebd.).

Die inklusive Didaktik richtet den Blick auf das individuelle Lernen der Schüler: Wer lernt was, wie, wo und wozu? Das hier vorgestellte Modell von Dietrich (2020) ist eine Ori­entierungsgrundlage und für das didaktische Handeln gedacht. Jedes Element der Frage «Wer lernt was, wozu, wie, wo, mit wem?» ver­weist auf spezifische didaktische Aufgaben der einzelnen didakti­schen Dimensionen (Dietrich, 2012). Die Frage hilft, ein systematisches Vorgehen bei der Planung, Gestaltung und Reflexion inklusiven Unterrichts sicherzustellen.

Inklusiver Unterricht bietet Lerngelegenheiten in Form von Aktivitäten und Aufgaben für alle Schülerinnen und Schüler.

Damit jedes Kind nach seinen Möglichkeiten lernen kann, muss die Entwicklung berück­sichtigt werden. Welche Bedeutung hat der Lerninhalt für die Lernende oder den Lernen­den? Wie kann sie oder er mit dem Inhalt in Beziehung treten? Wie kann das Erforschte und Erlernte in das eigene Wissenssystem integriert und zu einem eigenen inneren Bild oder zu einer Handlung verdichtet werden? In der Umsetzung von kooperativem Lernen am gemeinsamen Gegenstand (Feuser, 2009, Müller Bösch & Schaffner Menn, 2014) wird versucht, wenn immer möglich den Bildungsgegenstand allen zugänglich zu machen.

Im Zentrum einer didaktischen Auseinandersetzung steht das Lernen der Schülerinnen und Schüler. Wenn die Lernenden Kompetenzen aufbauen, ist der Unterricht wirksam. Im didaktischen Dreieck von Reusser und Pauli (2010) wird das Handlungsfeld von Unterricht ersichtlich.

Nach Müller Bösch und Schaffner Menn (2021) besteht im inklusiven Unterricht die Auf­gabe der Lehrpersonen darin, die Lernsituation der Schülerinnen und Schüler genau zu beobachten, um mögliche Barrieren zu erkennen und dementsprechende Massnahmen zu ergreifen. Die dargestellten Dimensionen im didaktischen Dreieck können die Handlungs­möglichkeiten der Lehrpersonen systematisieren (ebd.).

In der Planung von Lernaufgaben braucht es eine professionelle Auswahl des Gegenstands und eine persönliche Beziehung der Lehrperson zum Gegenstand. Inklusive Bildung orientiert sich an Problemen, Fragen und Aufgaben, die uns alle angehen. Die Lehrperson nimmt in der kooperativen Zusammenarbeit am gewählten Gegenstand die didaktische Analyse nach Klafki (2007) vor. Damit wird Bildung für alle realisiert. Nach Klafki (2007) haben alle Menschen Anspruch auf Bildung.

Im Lernen am gemeinsamen Gegenstand können folgende Fragen bearbeitet werden:

  • Wie können wir mit unserer eigenen Wesensart umgehen?
  • Was braucht es, damit unser Zusammenleben hindernisfrei organisiert werden kann, sich niemand benachteiligt fühlt und sich alle einbringen können?
  • Wozu brauchen wir die verschiedenen Kompetenzen? Was ist der Bildungsinhalt?
  • Welche Regeln müssen für den Mediengebrauch/-missbrauch aufgestellt werden?
  • Um in einen Dialog zu treten: Worum geht es bei einer bestimmten Sache, und welche Bedeutung hat sie für die Beteiligten?

Danach geht es darum, fachliche Kernideen zu entwickeln:

  • Welches ist der Kerngedanke oder das grundlegende Phänomen des Inhaltes?
  • Wie müssen die Inhalte aufgearbeitet werden und welche fachdidaktischen Aspekte können beigezogen werden?
  • Wie können die Lernenden motiviert werden, lange und aktiv am Lerngegenstand zu arbeiten und sich mit dem Thema zu befassen?
  • Welche Unterstützung brauchen die Schülerinnen und Schüler, um die überfach­lichen Kompetenzen in der Lernsituation anzuwenden?
  • Wozu wird das gelernt, ausgehend von späteren Lebens- und Lernsituationen und wozu werden sie befähigt? (Müller Bösch & Schaffner Menn, 2021)

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