6 Vergrösserungsbedarf
Der Vergrößerungsbedarf ist eigentlich weder eine Funktion noch eine Teilleistung der visuellen Wahrnehmung. Dennoch soll er an dieser Stelle beschrieben werden, da er bei der Einschätzung des Funktionalen Sehens und der Empfehlung von Hilfsmitteln eine herausragende Rolle spielt und oftmals aussagekräftiger als der Visus ist.
Schrift, Objekte oder Bilder, die für jemanden mit einer Sehbeeinträchtigung zu klein sind, um sie erkennen zu können, können durch Vergrößerung, d. h. durch ein vergrößertes Bild auf der Netzhaut, sichtbar gemacht werden. Häufig werden sehbeeinträchtigte Schulkinder mit Lupen, Großkopien oder elektronischen Hilfsmitteln versorgt, ohne dass geprüft wird, wie hoch ihr Vergrößerungsbedarf ist. Dies kann dazu führen, dass sie mit ihrem Hilfsmittel entweder unter- oder überversorgt sind. Bei einer Unterversorgung ist das Erkennen von Texten und Abbildungen erschwert und sehr anstrengend, aber auch bei einer Überversorgung können Probleme entstehen, da der gesehene Ausschnitt kleiner ist als nötig und kein Überblick über das zu erkennende Material gewonnen werden kann.

Das Messen und Beschreiben des Vergrößerungsbedarfes ist eine einfache und praktische Möglichkeit, um festzustellen, welche Schriftgröße benötigt wird, damit sie bequem erkannt wird. Aus der Messung des Vergrößerungsbedarfes kann in einem weiteren Schritt auch geschlossen werden, welche Hilfsmittel notwendig sind. Der Vergrößerungsbedarf korrespondiert häufig mit dem Visus, kann aber auch vom Visus abweichen.
Der Vergrößerungsbedarf kann entweder mit Texten als Leseprobe gemessen werden, oder – bei Kindern und Erwachsenen, die noch nicht lesen können – mit Testtafeln mit fortlaufenden Zahlen, die Texten nachempfunden sind (z. B. mit dem SZBlind Test zum Vergrösserungsbedarf).
Es gibt diese Zahlentafeln mit allen Ziffern von null bis neun oder nur mit den Ziffern null, zwei und drei für junge Kinder und Menschen mit Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung (SZBlind). Die Zahlen sind einem Text mit unterschiedlich langen Wörtern nachempfunden und werden einzeln gelesen. Die Tests finden sich im zweiten Kapitel der Lernumgebung.
Das Messen des Vergrößerungsbedarfs ist – im Gegensatz zur Bestimmung des Visus – eine Messung des sogenannten „suprathreshold“ (überschwellige Messung). Dies bedeutet, dass nicht gemessen wird, welche Schriftgröße mit maximaler Anstrengung gerade noch erkannt wird, sondern es geht darum festzustellen, welche Schriftgröße notwendig ist, um entspannt über einen längeren Zeitraum lesen zu können.
Der Vergrößerungsbedarf wird mit Korrektur in 25 cm Abstand gemessen. Wenn das Lesen langsam und stockend wird, ist die Grenze erreicht. Bei Kindern ist es sinnvoll, zunächst die groß gedruckten Texte lesen zu lassen, damit man sicher sein kann, dass das Lesen beherrscht wird und Leseschwierigkeiten nicht mit Sehproblemen verwechselt werden. Falls Leseprobleme vorliegen, kann der Test mit Ziffern verwendet werden. Die Ziffern werden einzeln gelesen und nicht als Zehner, Hunderter oder noch größere Zahlen. Es sollte beachtet werden, dass es für viele Kinder einfacher ist, Ziffern zu lesen als Texte und so der Vergrößerungsbedarf mit Ziffern niedriger ausfällt als derjenige, der mit Text ermittelt wurde.

Die Testtafeln zum Messen des Vergrößerungsbedarfs sind logarithmisch aufgebaut: Die Schriftgrößen verkleinern sich je Stufe immer um den gleichen Faktor. Die größte Schriftgröße ist bis zu 20x größer gedruckt als Normaldruck (Größe von Zeitungsdruck), die kleinste Schriftgröße liegt zwei logarithmische Stufen unter der Größe von Zeitungsdruck. Wenn auch die kleinste Schriftgröße noch erkannt wird, liegt eine ausreichende Vergrößerungsreserve vor, d.h. dass Schrift in der Größe von Zeitungsdruck ohne Anstrengung erkannt wird.

Wird der Test in 25 cm Entfernung fließend gelesen, kann aus der Größe der Schrift der Vergrößerungsbedarf abgelesen werden. Wenn es nicht möglich ist, den Test in 25 cm Entfernung durchzuführen, muss das Ergebnis umgerechnet werden. Hierfür kann die nachfolgende Formel genutzt werden:
- Die Formel zum Umrechnen des Vergrößerungsbedarfs: [latex] Vergrösserungsbedarf = \frac{25cm}{Testdistanz in cm}[/latex]
- Alternativ kann auch einfach die Umrechnungstabelle des SZBlind genutzt werden. Diese ist direkt im Test entahlten (siehe hierzu das nächste Kapitel der Lernumgebung).
Neben der Vergrösserung gibt es noch viele weitere Parameter, die bei der Anpassung der Schrift berücksichtigt werden sollten, z.B.
- Die Schriftart (mit oder ohne Serifen)
- Die Buchstabenlaufweite (insbesondere wichtig bei Personen mit Crowding)
- Der Kontrast von Vorder- und Hintergrund (z.B. gelbe Schrift auf schwarzem Hintergrund)
- Die Möglichkeit von Fixationslinien (insbesondere für Personen, die exzentrisch fixieren müssen)
- Das Hilfsmittel (z.B. Bildschirmlesegerät, Vergrösserungssoftware, elektronische oder optische Lupe)
