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2 Gesichtsfeld (ICF-CY b2101)

Wenn ein Mensch mit normalem Sehvermögen geradeaus sieht, ohne die Augen zu bewegen, erfasst sein Blick auch das, was sich in der Peripherie des Gesichtsfeldes befindet. Der gesamte Bereich, der nach allen Seiten sichtbar ist, ohne die Augen zu bewegen, wird als Gesichtsfeld bezeichnet.

Das monokulare Gesichtsfeld beträgt auf jedem Auge 150°. Das binokulare Gesichtsfeld 180°. Das vertikale Gesichtsfeld 125°.

Gesichtsfeldausfälle können durch Schädigungen des Auges selbst, Schädigungen des Sehnervs oder der Reizweiterleitung zum Gehirn hervorgerufen werden oder gehen auf Schädigungen derjenigen Bereiche des Gehirns zurück, in denen die visuellen Informationen verarbeitet werden (Haegerstrom-Portnoy 2004, 115). Es gibt Gesichtsfeldausfälle in der Peripherie, im Zentrum und Halbseitenausfälle, sowie begrenzte Ausfälle (Skotome), die an allen Stellen des Gesichtsfeldes auftreten können. Bei Gesichtsfeldausfällen in der Peripherie ist das orientierende Sehen (Wo-System) betroffen und bei Gesichtsfeldausfällen im Zentrum ist das erkennende Sehen (Was-System) betroffen. Auch wenn bei der Perimetrie „absolute Ausfälle“ festgestellt werden, ist es möglich, dass bewegte oder flackernde Stimuli noch wahrgenommen werden können (vgl. Hyvärinen, Jacob 2011, 202). Dies erklärt, dass visuelle Leistungen beim Erkennen von Bewegungen (z. B. beim Sport) sich nicht immer mit den klinisch gemessenen Gesichtsfelddefekten decken. Grundsätzlich wird nach verschiedenen Arten von Gesichtsfeldausfällen unterschieden, die nach Gestalt, Lage, Größe und Dichte klassifiziert werden:

  • Zentralskotom
  • Diverse andere Formen von Skotomen
  • Periphere Gesichtsfeldausfälle
  • Hemianopsien und Quadrantenausfälle
Der graue Bereich steht für das „Wo-System“ und der gelbe Bereich für das „Was-System“.

Zentralskotom und andere Formen von Skotomen

Unter einem Skotom versteht man einen begrenzten Bereich des Gesichtsfeldes, in dem eine herabgesetzte Sensibilität oder ein totaler visueller Ausfall besteht. Als zentraler Gesichtsfeldausfall oder Zentralskotom werden Ausfälle bezeichnet, die im Zentrum des Gesichtsfeldes, an der Stelle des schärfsten Sehens, lokalisiert sind. Sie beeinträchtigen die Sehschärfe und damit das erkennende Sehen und führen zu starken Beeinträchtigungen bei Tätigkeiten im Nahbereich (z. B. beim Lesen). Ein Zentralskotom kann z. B. die Folge einer Makuladegeneration oder von Entzündungen des Sehnervs sein. Wenn ein Zentralskotom vorliegt, bedeutet dies, dass nicht mit der Fovea (Stelle des schärfsten Sehens innerhalb der Makula), sondern mit einer anderen Stelle der Netzhaut fixiert wird, was als exzentrische Fixation bezeichnet wird.

Simulation eines Zentralskotoms beim Lesen.

Die abgebildeten Bilder sollen für mögliche Sehprobleme sensibilisieren. Sowohl bei einem Zentralskotom, als auch bei einer konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkung werden die Ausfälle nicht als graue oder schwarze Flecken wahrgenommen, sondern das Gehirn erzeugt von dem jeweiligen Ausschnitt den Eindruck, als wenn dies alles ist, was zu sehen ist.

Menschen mit Skotomen können die Grenzen ihres Ausfalls oft nicht genau benennen, sondern beschreiben, dass Teile (z. B. von Wörtern) plötzlich verschwinden und dann wieder auftauchen. Viele Menschen mit einem Zentralskotom haben sowohl Probleme bei der Gesichtserkennung als auch Schwierigkeiten beim Lesen und benötigen hohe Vergrößerungen. Die meisten Personen mit Zentralskotom haben beim Blick nach geradeaus eine Sehschärfe von weniger als 0.1. Ein zentraler Ausfall tritt in Kombination mit Akkommodationsproblemen auf, da die Akkommodation an eine funktionstüchtige Fovea gebunden ist.

Simulation eines Zentralskotoms im Strassenverkehr. Der oder die Betroffene kann auch mit Zentralskotom noch viele Hindernisse erkennen.

Man unterscheidet zwischen dem absoluten Skotom (es kann an der Stelle des Ausfalls nichts wahrgenommen werden), dem relativen Skotom (die betroffene Region weist zwar eine reduzierte Empfindlichkeit auf, aber es kann noch etwas wahrgenommen werden), dem positiven Skotom (die Ausfälle werden als Schatten oder Flecken bemerkt) und dem negativen Skotom (die Ausfälle werden nicht bemerkt). Der blinde Fleck (Stelle, an der der Sehnerv austritt, an der weder Stäbchen noch Zäpfchen vorhanden sind) ist ein Beispiel für ein absolutes, negatives Skotom, da man den blinden Fleck nicht bemerkt und keinerlei Wahrnehmung an dieser Stelle der Netzhaut möglich ist. Ein absolutes negatives Skotom wird also nicht als „schwarzer Fleck“ wahrgenommen, sondern bedeutet die totale Abwesenheit von visueller Information.

Weitere Formen von Skotomen, wie das Parazentralskotom oder das Ringskotom sind Ausfälle, die nicht das Zentrum des Gesichtsfeldes und damit nicht direkt die Stelle des schärfsten Sehens betreffen, sondern in der Nähe des Zentrums oder in der Peripherie des Gesichtsfeldes lokalisiert sind. Ursachen hierfür können z. B. Glaukom oder Netzhaut-/Aderhautentzündungen sein.

Periphere Gesichtsfeldausfälle

Bei vielen Sehbeeinträchtigungen, die mit einer konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkung einhergehen, wie z. B. Retinopathia pigmentosa (RP), beginnt die Degeneration der Netzhaut in der Peripherie und schreitet zur Netzhautmitte hin fort. Häufig wird der Sehverlust von den Betroffenen erst dann bemerkt, wenn das Gesichtsfeld schon sehr eingeschränkt ist. Bei Retinopathia pigmentosa werden zu Beginn die Stäbchen funktionslos, so dass das Sehen in der Dämmerung sich verschlechtert. Stäbchen sind die Photorezeptoren in der Netzhaut des Auges, die für das Sehen bei geringer Helligkeit (Dämmerungssehen, Nachtsehen) zuständig sind. Zapfen sind dagegen die Sinneszellen in der Netzhaut, die nur bei ausreichender Beleuchtung aktiviert werden – und für die Farbwahrnehmung zuständig sind. Im zentralen Bereich der Netzhaut befinden sich nur Zapfen. Daher sind viele Menschen mit Retinopathia pigmentosa mit einem sehr kleinen Gesichtsfeld bei guter Beleuchtung oft noch in der Lage, normale Schrift zu lesen, während sie bei Dämmerung praktisch blind- und in schlecht beleuchteten Räumen hochgradig sehbehindert sind.

Simulation einer starken peripheren Gesichtsfeldeinschränkung im Strassenverkehr.

Die Abbildung unten verdeutlicht, warum Dinge, die sich im unteren Bereich befinden, oft erst wahrgenommen werden, wenn man gegen sie stößt, dass aber das Lesen von Schrift bzw. das identifizieren von Objekten, wenn sie im zentralen Gesichtsfeldbereich liegen, durchaus gut gelingen kann. Allerdings benötigen die meisten Personen mit dieser Form der Sehbeeinträchtigung für die sichere Orientierung und Bewegung einen Langstock.

Die Lesefähigkeit kann bei einem Tunnelgesichtfeld noch relativ lange erhalten bleiben. Die Simulation verdeutlich zudem, dass eine Schriftvergrösserung nicht für alle Personen mit Sehbeeinträchtigung sinnvoll ist.

Eine massive konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung wird auch als Röhrengesichtsfeld oder Tunnelblick bezeichnet und hat Auswirkungen auf das orientierende Sehen – das „Wo-System“ – und damit auf die sichere Fortbewegung. Die Größe des Gesichtsfeldes ist für die Orientierung und Mobilität von höherer Bedeutung als die Sehschärfe. Menschen mit einem Röhrengesichtsfeld haben Probleme, Objekte am Rand des Gesichtsfeldes zu sehen, während sie beim Blick geradeaus an der zentralen Stelle des Sehens u. U. relativ gut sehen können. Neben dem orientierenden Sehen, können bei einer konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkung auch Probleme beim Lesen auftreten, wenn das Lesegesichtsfeld zu klein geworden ist. Falls die Sehschärfe nicht zu sehr eingeschränkt ist, kann es in diesen Fällen hilfreich sein, wenn Texte verkleinert – oder zumindest nicht vergrössert werden. Es gibt auch periphere Ausfälle (wie z. B. Frühgeborenen-Retinopathie), die nicht fortschreitend sind.

Hemianopsien und Quadrantenausfälle

Als Hemianopsien (bzw. Hemianopien) werden Gesichtsfeldausfälle bezeichnet, bei denen sich der Ausfall auf eine Hälfte des Gesichsfeldes beschränkt (Halbseitenausfall). Nach der Lokalisation unterscheidet man Ausfälle nach links bzw. rechts oder – seltener – nach oben bzw. unten, nach Ausmaß in komplett oder inkomplett. Ist die gleiche Seite beider Augen betroffen (nach links oder rechts) so spricht man von einem homonymen Gesichtsfeldausfall. Als Quadrantenausfälle bezeichnet man dementsprechend Ausfälle, die ein Viertel des Gesichtsfeldes betreffen. Neurologische Erkrankungen oder Sehbahnläsionen können die Ursache für Halbseitenausfälle oder Quadrantenausfälle sein.

Simulation einer Hemianopsie

Messung des Gesichtsfeldes

Gesichtsfeldmessungen (wie z. B. Goldmann-Perimetrie oder Computerperimetrie), die beim Augenarzt durchgeführt werden, sind nur bei guter Mitarbeit des Untersuchten verwertbar: Dabei muss ein bestimmter Punkt im Zentrum des Gesichtsfeldes fixiert werden, während Angaben zur visuellen Wahrnehmung in einem anderen Bereich des Gesichtsfeldes zu machen sind, ohne dort hinzuschauen. Wegen der erforderlichen Mitarbeit sind solche Gesichtsfelduntersuchungen bei Kindern in der Regel nicht vor der dritten Grundschulklasse möglich und werden durch zusätzliche Beeinträchtigungen dementsprechend erschwert oder gar unmöglich.

Man unterscheidet grundsätzlich zwischen der Perimetrie, bei der die gesamten 180° des Gesichtsfeldes untersucht werden, und der Campimetrie, bei der die zentralen 30° des Gesichtsfeldes untersucht werden. Es gibt – neben den Möglichkeiten der Gesichtsfeldmessung beim Augenarzt – verschiedene Möglichkeiten einer funktionalen Überprüfung des Gesichtsfeldes:

  • Konfrontationsmethode (mit Hilfsperson und Lea-Flicker-Test)
  • Nef-Trichter mit Punktleuchte
  • Tangentscreen
  • Amsler-Gitter

Informelle Erhebung des Gesichtsfeldes

Durch gezielte Beobachtungen lassen sich Rückschlüsse auf das funktionale Gesichtsfeld ziehen.

Hinweise auf Skotome und Gesichtsfeldausfälle beobachten: 

  • Wie bewegt sich die Person? Stösst er oder sie häufig unwillkürlich an Dinge oder Personen?
  • Wo sind die Objekte und Hindernisse, die von der Person übersehen werden (auf dem Boden, auf Augenhöhe, herabhängend)?
  • Welche Strategien verwendet die Personen zum Suchen?
  • Wie reagiert die Person auf Material mit Tabellen, Matrizen und vielen Formen?
  • Welche Körper- und Kopfhaltung nimmt die Person ein?
  • An welchen Spiel- und Bewegungssituationen zeigt die Person Interesse? Und an welchen nicht?
  • Wie bewegt sich die Person in unbekannten Umgebungen?

Zusammenfassung

 

 

Lizenz

Sehfunktionen nach ICF-CY und Testverfahren zur visuellen Diagnostik Copyright © Fabian Winter. Alle Rechte vorbehalten.

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