1 Visus (ICF-CY b2100)
Unter dem Begriff Visus (Minimum separabile) oder Sehschärfe versteht man „die Bezeichnung für den kleinsten Abstand oder Sehwinkel zwischen zwei Punkten, der erforderlich ist, damit diese noch für das Auge getrennt wahrnehmbar sind. Der Visus ist das Maß für das Auflösungsvermögen der Netzhaut, das in der Fovea centralis ca. 1 Bogenminute (1/60 Winkelgrad) beträgt“ (Langholz 2006). Ein Visus von 1.0 entspricht also dem Auflösungsvermögen von einer Bogenminute (1′ oder 1/60 Grad) (vgl. Grehn 2006, 34).
Der Visus kann definiert werden als die Fähigkeit, zwei Punkte bei optimaler Korrektur auf eine bestimmte Distanz getrennt wahrzunehmen. Er kann berechnet werden durch die Formel: [latex]Visus = \frac{Prüfdistanz}{Normdistanz}[/latex]
Der Visus kann aber auch physikalisch als der Kehrwert jenes Sehwinkels, der gerade noch aufgelöst werden kann, definiert werden. Formel: [latex]Visus = \frac{1}{Grenzwinkel α (Winkelminuten}[/latex]


Der Visus ist in der Netzhautmitte (Fovea centralis) am besten, er nimmt zur Peripherie hin ab. Ein „normaler“ Visus kann keiner bestimmten Zahl zugeordnet werden, da er altersabhängig und individuell unterschiedlich ist. Der durchschnittliche Visus beträgt 1.0. Er wird in Deutschland üblicherweise als Dezimalzahl angegeben, man kann ihn aber auch – wie in den angelsächsischen Ländern – als Snellen-Bruch ausdrücken, „bei dem der Prüfabstand im Zähler und die Soll-Entfernung der gerade noch gelesenen Zahlengröße im Nenner angegeben ist“ (Grehn 2006, 29).
Die nachfolgende Tabelle kann zur Umrechnung von Visuswerten genutzt werden:

Verschiedene Formen der Sehschärfe
Man unterscheidet verschiedene Formen der Sehschärfe:
- Erkennungssehschärfe (= Optotypensehschärfe)
- Entdeckungssehschärfe (Gittersehschärfe, Punktsehschärfe)
Zur Bestimmung der Erkennungssehschärfe werden Tests mit Sehzeichen (Optotypen) verwendet, bei denen die Form eines Objektes erkannt und benannt werden muss.
Zur Bestimmung der Entdeckungssehschärfe ist es nicht nötig, die genaue Form eines Objektes zu erkennen, sondern es reicht, festzustellen, ob „etwas vorhanden“ ist. Hierfür werden anstelle von Optotypen z. B. Gittermuster verwendet und mit der „preferential looking“ Methode gearbeitet. Die Gittersehschärfe wird als Visusäquivalent angegeben.
Optotypen (Sehzeichen)
Der Landoltring, ein Ring definierter Breite mit einer Öffnung derselben Breite, die in acht verschiedenen Richtungen angeordnet sein kann, ist das Norm-Sehzeichen in Europa. Man spricht von einem Visus von 1.0, wenn die Öffnung des Landoltringes einer Winkelminute (1′ oder 1/60 Grad) entspricht. Eine Person mit einer Sehschärfe von 0.5 kann nur einen Sehwinkel von 2 Winkelminuten auflösen. Die Gesamtgröße des Landoltrings entspricht 5d, die Größe der Öffnung und die Breite des Balkens entsprechen d. Neben Sehtests mit Landoltringen werden auch andere genormte Sehtests (z. B. mit Zahlen, Buchstaben und Symbolen) eingesetzt. Jede Messmethode wird aus gutachterlicher Sicht nur dann als richtig betrachtet, wenn sie die gleichen Visuswerte liefert, wie diejenige, die mit Landoltringen erzielt wurde.

Einzelzeichen und Reihenzeichen
Die Erkennungssehschärfe kann mit Einzelzeichen oder mit Reihenzeichen gemessen werden. Der Grundtest aller Sehschärfetests ist der Reihentest, in dem es wenigstens fünf Optotypen in einer Reihe gibt. Die Abstände zwischen den einzelnen Optotypen sind so groß wie die Breite der Optotypen und der Abstand zwischen den Optotypenreihen entspricht der Höhe der Optotypen der unteren Reihe. Bei Tests mit Einzelzeichen wird dagegen nur ein Sehzeichen präsentiert.
Die mit Reihenzeichen gemessene Sehschärfe fällt bei Menschen mit Nystagmus (Augenzittern), Amblyopie (funktionaler Sehschwäche) und Crowding-Problemen (Schwierigkeiten bei der Erkennung eng gruppierter Zeichen) aufgrund der Kontureninteraktion (Sehzeichen beeinflussen sich gegenseitig) oft schlechter aus als die mit Einzelzeichen gemessene Sehschärfe. Ein Visus mit Einzelzeichen kann ab einem Lebensalter von ungefähr zwei Jahren gemessen werden und liegt üblicherweise zwischen 0.4 und 0.8. Mit Reihenzeichen kann die Sehschärfe erst ab einem Alter von etwa drei Jahren gemessen werden, sie liegt etwa bei 0.4 und sollte bis zum siebten Lebensjahr auf mindestens 0.8 ansteigen (Walthes 2003, 81). Das Messen mit Reihenzeichen ist eine komplexere kognitive und visuelle Leistung und liefert im Gegensatz zur Messung mit Einzelzeichen umfassendere Ergebnisse. Im Alltag spielt das Erkennen von Zeichen in der Reihe, z. B. beim Lesen, eine größere Rolle als das Erkennen von Einzelzeichen.
Nahvisus
Der Nahvisus ist sehr bedeutsam um Details er erkennen (z. B. Konturen, Größe und Form), für Spiel- und Bastelangebote und im schulischen Kontext für das Lesen und Schreiben. Im Kindesalter wird dem Nahvisus eine grössere Bedeutung zugewiesen als dem Fernvisus. Unter anderem beginnt man deshalb auch bei Kindern häufig zuerst mit der Nahvisustestung und dann mit der Fernvisustestung.
Fernvisus
Der Fernvisus ist für die sozialrechtliche Festlegung von Blindheit- und Sehbehinderung sehr wichtig. Gemessen wird die Fähigkeit, kleine Details zu erkennen und somit Informationen über die Umwelt, Objekte und Formen zu gewinnen. Im Gegensatz zur klinischen Testung wird der Fernvisus in einer funktionalen Überprüfung in einer alltäglichen Situation in der Schule oder zu Hause mit komfortablem Sehabstand gemessen. Die Trennungssehschärfe in der Ferne hat einen großen Einfluss auf die Umwelterfahrung und Begriffsbildung.
Die Sehschärfe lässt sich mithilfe von Sehtests (z.B. LEA Symbols Nahvisus oder LEA Symbols Fernvisus) erheben. Darüber hinaus gibt es jedoch einige Möglichkeiten, wie Lehrpersonen durch gezielte Beobachtungen funktionale Rückschlüsse auf das Sehvermögen des Kindes machen können:
Informelle Beobachtungen zur Sehschärfe
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In welcher Distanz werden Gesichter erkannt?
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In welcher Distanz erkennt die Person Schilder (aussen/innen)?
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In welcher Distanz können Lernmaterialien / Spielsachen erkannt werden?
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In welcher Distanz kann von der Tafel gelesen werden?
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Zeigt die Person Interesse an Fernsehen und Videos? In welcher Distanz werden diese gesehen?
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In welcher Distanz und mit welcher Schriftgrösse wird gelesen?
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Wie gross sind die Lieblingsspielsachen und in welcher Distanz werden diese erkannt?