Sehfunktionen
Ausschnitt aus: Hofer, U. (2017). Sehen oder Nichtsehen: Bedeutung für das Lernen und aktive Teilhabe in verschiedenen Bereichen des Lebens. In M. Lang, U. Hofer & F. Beyer (Hrsg.), Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern (2. Aufl., S. 17–83). Kohlhammer.
ICF: Sehen in systemisch-ökologischer Betrachtungsweise
Der Gewinn systemischer Betrachtungsweisen liegt in der komplexen und vernetzenden Darstellung von Behinderungen. 2001 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der ICF ein Nachfolgeinstrument des ICIDH (International Classification of Impairment, Disability and Handicaps) verabschiedet. Seit 2004 liegt es in deutscher Fassung als »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« und seit 2011 als »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen« (ICF-CY) vor.

Gesundheit
Gliederungsprinzipien der ICF-CY
Die ICF stellt eine umfassende Sammlung an Komponenten von Gesundheit und Wohlbefinden dar, mit welchen der Mensch und sein gesamtes Umfeld, dessen förderliche und hemmende Bedingungen, darstellbar ist.
Bezieht man sie auf »Sehen«, so sind diese Fähigkeiten und ihre Behinderungen bestimmbar auf der körperlichen Ebene der Strukturen und Funktionen. Sie sind aber immer gebunden an Situationen der dinglichen und sozialen Umwelt sowie weitere persönliche Faktoren. Alle zugehörigen Aspekte beeinflussen sich gegenseitig.
Zusammengenommen ergibt sich daraus ein bio-psycho-soziales Modell zur Festlegung der Aktivität und Teilhabe eines Menschen mit allen vorhandenen Ressourcen, Problemen und Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen. Behinderung ist in diesem Sinne darstellbar als eine negative Wechselwirkung zwischen einer Person und deren Kontext, welche sich auswirkt auf die Funktionsfähigkeit dieser Person (Kraus de Camargo & Simon 2013).
- Die ICF-CY folgt diesen Gliederungsprinzipien, enthält aber einige Anpassungen aufgrund der zentralen Bedeutung von Wachstum und Entwicklung in diesem Lebensalter.
- Die folgenden vier Themenbereiche bestimmten die notwendigen Anpassungen (Hollenweger & Kraus de Camargo 2011, 15 f.):
- Familienkontext: Entwicklung als dynamischer Prozess der Abhängigkeit der Funktionsfähigkeit von der kontinuierlichen Interaktion mit der Familie und anderen Personen des nahen sozialen Umfeldes
- Entwicklung: Körperfunktionen und -strukturen sowie die Aneignung von Techniken variieren bezüglich des Zeitpunkts ihres Auftretens, weshalb Entwicklungsverzögerungen oder drohende Behinderungen identifizierbar sein müssen.
- Teilhabe: Je jünger Kinder sind, desto mehr sind deren Teilhabemöglichkeiten durch ihr soziales Umfeld und andere unterstützende Systeme bestimmt.
- Lebenswelten: Im Laufe der Kindheit verändern sich deren Lebenswelten in Abhängigkeit von ihren zunehmenden Kompetenzen und ihrer Unabhängigkeit stetig und grundlegend.
Die folgende Systematik gilt insgesamt für die ICF wie auch die ICF-CY. Die gewählte Darstellung bezieht sich dabei auf die ICF-CY. Abweichungen von der ursprünglichen ICF-Fassung betreffen insbesondere die Komponenten der Aktivität und Partizipation.
Körperstrukturen
Zu den Körperstrukturen gehören die anatomischen Teile des Körpers. Das sind Organe und Gliedmaßen wie z. B. Gehirn- und Nervenstrukturen, Augen, Ohren, Stimm- und Sprechorgane, Herz-, Atmungs- und Immunsystem, Verdauungssystem, Bewegungssystem, Strukturen der Haut usw. (Hollenweger & Kraus de Camargo 2011, 140 ff.).
Alle Items der Körperstrukturen (body structures) beginnen mit ›s‹ und werden dann weiter differenziert durch Zahlen. Relevant für die Belange des Sehens ist Kapitel 2: »Das Auge, das Ohr und mit diesen in Zusammenhang stehende Strukturen« mit den Items s210 bis s230 (ebd., 144 f.).
Hier stellt sich die Frage: Welche Körperstrukturen weisen Schädigungen auf, die auf der Ebene der Funktionen wesentliche Beeinträchtigungen darstellen?
Körperfunktionen
Körperfunktionen sind physiologische und psychologische Funktionen von Körpersystemen. Dazu gehören alle mentalen und emotionalen Bereiche (Bewusstsein, Orientierung in Raum und Zeit, allgemeine Intelligenz, Symbolverständnis, Gedächtnis, Motivation, Aufmerksamkeit,…), sensorische und bewegungsbezogene Funktionen, Stimm- und Sprechfunktionen. Im Weiteren sind es kardiovaskuläre Funktionen, solche der Verdauung, des Stoffwechsels, des reproduktiven Systems und der Haut (ebd., 73 ff.).
Alle Items der Körperfunktionen (body functions) beginnen mit ›b‹.Relevant für die Belange des Sehens ist Kapitel 2, »Sinnesfunktionen und Schmerz«, mit dem Teil »Seh- und verwandte Funktionen«, darin den Items b210 bis b220 (ebd., 92 ff.). Die nachfolgende Liste ist bereits stark gekürzt. Eine vollständige Übersicht befindet sich bei Hofer 2017.
- b2100 die Sehschärfe (Visus) betreffende Funktionen
- b2101 das Gesichtsfeld
- b21021 Farbsehvermögen (Farbsinn)
- b21022 Kontrastempfindung
- …
Aus dem Kapitel 1 »Spezifische mentale Funktionen« sind insbesondere die Items b156 zu den »Funktionen der Wahrnehmung« bedeutsam (ebd. 84 ff.).
- b156 Funktionen der Wahrnehmung
- b1561 visuelle Wahrnehmung
- b1560 auditive Wahrnehmung
- b1564 taktile Wahrnehmung
- b1565 räumlich-visuelle Wahrnehmung
Ebenfalls relevant in Bezug auf Sehen können weitere Bereiche der spezifischen mentalen Funktionen sein (ebd., 81 ff.). So die Items b140 zu den Funktionen der Aufmerksamkeit, die Items b144 zu den Funktionen des Gedächtnisses, aber auch die psychomotorischen Funktionen mit den Items b147, die mentalen Funktionen, die die Durchführung komplexer Bewegungshandlungen betreffen mit dem Item b176 und die Selbstwahrnehmung und die Zeitwahrnehmung betreffende Funktionen mit den Items b180.
Neun Lebensbereiche der Aktivitäten und Partizipation/Teilhabe
Aktivität bezeichnet die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung und die Partizipation steht für das Einbezogensein, für die Integration in verschiedene Lebensbereiche (ebd., 161 ff.). Wichtig ist die Frage: Was fördert oder beeinträchtigt die Aktivität und Partizipation in welchen Bereichen oder Situationen des Lebens?
Die Codierung der Items beginnt mit ›d‹ und zur Differenzierung folgen auch hier Zahlen.
- Lernen und Wissensanwendung,
- allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
- Kommunikation,
- Mobilität,
- Selbstversorgung,
- häusliches Leben,
- interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,
- bedeutende Lebensbereiche,
- Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Die neun Lebensbereiche werden im original Text in den Folgekapitel in Bezug auf Beeinträchtigungen des Sehens fallbezogen dargestellt.
Umweltfaktoren
»Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Dasein entfalten« (ebd., 228). Zu fragen ist hier nach den Faktoren, die – aus der Sicht der betroffenen Person – entweder eine Barriere oder einen Förderfaktor darstellen (ebd.). Die Items der Umweltfaktoren (environmental factors) beginnen mit ›e‹, gefolgt von Zahlen zur weiteren Ausdifferenzierung. Ihre Klassifikation (ebd., 230 ff.):
- Produkte und Technologien,
- natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt,
- Unterstützung und Beziehungen,
- Einstellungen,
- Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze.
Personbezogene Faktoren sind zusammen mit den Umweltfaktoren eine Komponente des Kontextes. Sie werden wegen der »mit ihnen einhergehenden großen soziokulturellen Unterschiedlichkeit« nicht in der ICF klassifiziert (ebd., 34).
Darstellung von Schädigungen, Problemen, Barrieren oder Förderfaktoren
Die Darstellung des Ausmaßes von Beeinträchtigungen sieht hinter der jeweiligen Nummer des Items (xxx) eine Skalierung vor.
- xxx.0 nicht vorhanden (0 bis 4%)
- xxx.1 leicht ausgeprägt (5 bis 24%)
- xxx.2 mäßig ausgeprägt (25 bis 49%)
- xxx.3 erheblich ausgeprägt (50 bis 95%)
- xxx.4 voll ausgeprägt (96 bis 100%)
- xxx.8 nicht spezifiziert
- xxx.9 nicht anwendbar
Während die vorgeschlagene Skalierung für alle Komponenten identisch ist, wechselt die Bezeichnung. Für die Körperfunktionen und Strukturen geht es um die »Schädigung«. Bei den Strukturen lassen sich, wo nötig, ergänzend genauere Angaben machen zur Art einer Veränderung sowie zu deren Lokalisation (z. B. links, rechts oder beidseitig). In Bezug auf Aktivitäten und Partizipation wird das »Problem« in seiner Ausprägung festgelegt und die Umweltfaktoren werden entweder als »Barriere« oder aber als »Förderfaktor« angegeben. Um diese Unterscheidung auf einfache Weise festhalten zu können, erhalten die Förderfaktoren zusätzlich ein fl hinter der Item-Nummer: xxx fl (0, 1, 2, …). Funktionsfähigkeit und Behinderung werden somit in der ICF-Systematik dargestellt durch die Bestimmung relevanter körperlicher Funktionen und Strukturen sowie das Handeln in und die Teilhabe an bestimmten Lebenssituationen. Gleichzeitig sind sie immer geprägt durch die soziale und die materielle Umwelt, welche entweder als Barriere oder als förderlicher Faktor wirken.
Gewinne und Gefahren der ICF

Die ICF bemüht sich um eine allgemeinverständliche Sprache, was die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachpersonen erleichtert.
Die ICF als pädagogisches Instrument
Die Nutzbarkeit der ICF im vorschulischen und schulischen Bereich ist nicht zuletzt abhängig von deren Effizienz. Um dieser Bedingung gerecht zu werden, ist sie auch als Kurzversion verfügbar (vgl. Hollenweger & Kraus de Camargo 2011, 35) Zusätzlich gibt es gestraffte Checklisten für das Kindes- und Jugendalter (Kraus de Camargo & Simon 2013, 83 ff.). Diese richten sich spezifisch aus auf vier verschiedene Altersgruppen (null bis drei Jahre, drei bis sechs Jahre, sechs bis zwölf Jahre sowie zwölf bis 18 Jahre).
Primär dient die ICF der förderdiagnostischen Erfassung vorhandener Probleme in den Lebensbereichen der Aktivitäten und Partizipation. Werden diese in Bezug gesetzt zu den vorliegenden funktionalen Schädigungen einerseits sowie den Barrieren und Förderfaktoren in der Umwelt andererseits, ist eine Basis vorhanden zur Planung pädagogischer Maßnahmen.
So erfüllt die ICF ein wichtiges förderplanerisches Anliegen: Zur Festlegung des Bedarfs an Förderung und Unterstützung kann auch bei den individuellen Stärken, bei unproblematischen Bereichen mit bereits entwickelten und beobachtbaren Lern- und Handlungsstrategien angesetzt werden. In den erfassten Umweltbedingungen ist zusätzlich erkennbar, wo neben vorhandenen Barrieren bereits Förderfaktoren in welchem Ausmaß vorhanden sind. Individuelle kompensatorische Angebote medialer und strategischer Art können daraus abgeleitet werden.
Die ICF als Klassifikationsinstrument
Allerdings klassifiziert die ICF. Der messende, einordnende und somit auch etikettierende Prozess wird zudem als internationaler Standard gehandelt. Die Klassifikation bekommt so für die Betroffenen ein zusätzliches Gewicht. Kritisch lässt sich zumindest fragen, ob es sich dabei nicht auch um eine bestimmte Konstellation der Verteilung von Macht handeln könnte (Wehrli 2003).
Wie verhält es sich mit der entstehenden Grenze zwischen denjenigen, die irgendwann aufgrund einer bestimmten Vorannahme klassifiziert werden, und denjenigen, die es nicht werden?
Ab welchem Ausmaß an Beeinträchtigung oder Behinderung wird man erfasst?
Ist eine Festlegung dieses Ausmaßes abhängig von der subjektiven Entscheidung des Selbstbetroffenen oder gibt es außenstehende »objektive« Kriterien dafür?
Ob der in der ICFenthaltenen Terminologie rückt zudemeine in den letzten Jahren eher in den Hintergrund geratenemedizinische Profilierung vonHeil- resp. Sonderpädagogikerneut in den Vordergrund. Betroffene sehen darin auch die Gefahr, dass Behinderung wiederum in die Nähe von Krankheit gerückt wird und damit als wegzuheilendes Anhängsel betrachtet wird. Dies wäre gerade auch in Bezug auf blinde Menschen sehr verhängnisvoll, weil sich hierdank konstruktivistischer Ansätze inden letzten Jahren ein Perspektivenwechsel angebahnt hat. Behinderung ist eine spezifische Bedingung im Prozess der Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner Umwelt. In konstruktivistischerPerspektive ist von der Relativität dessen, was ist, resp. der Vorstellungen darüber, auszugehen. Spittler-Massolle betont mit Bezug auf den blinden Jungen, welcher als Tor den Pfosten annimmt und nicht den Zwischenraum zwischen den Pfosten:
»Man kann einem blinden Menschen, der nicht weiß, wie in der sehenden Welt ein Tor verstanden wird (aussieht), dies erklären, aber ein pädagogischer Drang, die eigene Vorstellung des Blinden als falsch zu diskriminieren, und damit zu streichen, wäre verderblich und deutete wahrscheinlich auf ein tiefes Misstrauen dagegen hin, die Relativität eigener Vorstellungen zu erkennen, oder dieser Drang wäre der Ausdruck eines Abwehrmechanismus gegenüber Blindheit […]« (1998, 207 f.).
Spittler-Massolle plädiert dafür, das Selbstverständnis von der sehenden Welt ab und zu durch den »blinden Blick« irritieren lassen. Damit könnte der generell gepflegten Verabsolutierung des Sehens eine kleine Korrektur verpasst werden.
»Es geht hierbei nicht um die Gleichheit der Sinnesempfindungen, sondern vielmehr um die Anerkennung der Tatsache, dass mit unterschiedlichen Sinnen Unterschiedliches wahrgenommen werden kann. In Verbindung mit dem Verarbeiten der Sinneserfahrungen gibt es keinen Anlaß und keine Berechtigung, einen qualitativen Unterschied zwischen den Konzepten Blinder und denen Sehender zu machen« (2001, 289).
Dass Blindheit Aktivität beeinträchtigt, ist plausibel – vielleicht allzu plausibel. Beschränkungen von Aktivitäten in sehr vielen Lebensbereichen sind nicht nur durch die funktionelle Besonderheit erklärbar, sondern auch durch die Tatsache, dass vorhandene Ressourcen nicht ausreichend Resonanz erfahren in der auf Sehen ausgerichtetenUmwelt.
Es genügt nicht, wie die ICF vorsieht, die vorhandenen Ressourcen zum Ausgang aller Förderplanung zu machen. Ebenso wichtig, und wahrscheinlich noch schwieriger, ist es, den Perspektivenwechsel zu vollziehen und kritisch zu analysieren, ob wir – begrenzt durch die Fähigkeit des Sehens – Ressourcen wirklich hinreichend auf die Wirklichkeit des blinden Menschen beziehen können.
Vertiefende Literatur
- Hofer, U. (2017). Sehen oder Nichtsehen: Bedeutung für das Lernen und aktive Teilhabe in verschiedenen Bereichen des Lebens. In M. Lang, U. Hofer & F. Beyer (Hrsg.), Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern (2. Aufl., S. 17–83). Kohlhammer. (Link)